Was halten Psychiatrie-Experten von CAIM?
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Integrative Medizin Komplementärmedizin
42.667 AutorInnen auf dem Fachgebiet der Psychiatrie wurden um Ihre Einschätzung der Komplementären, Integrativen und Alternativen Medizin gebeten. 987 Rückmeldungen konnten ausgewertet werden. (1)
Einer von acht Menschen weltweit leidet an einer psychischen Erkrankung. Zu den häufigsten zählen die Angststörung und Depression, wobei die Zahl der Betroffenen spätestens seit der COVID-19-Pandemie steigt. (2) Um ihre Symptome zu lindern oder die Nebenwirkungen von Medikamenten zu kompensieren, wenden PatientInnen sich zunehmend der Komplementären und Integrativen Medizin sowie der Alternativen Medizin zu. (3) Studien kommen zu dem Schluss, dass zwischen 62-72% der Betroffenen Verfahren aus diesen Bereichen – unter dem Sammelbegriff CAIM (Complementary, Alternative and Integrative Medicine) zusammengefasst – nutzen. (4-8) Dies wirft die Fragen auf, ob MedizinerInnen sich dessen bewusst sind und wie sie dazu stehen. Die medizinische Fachrichtung, die sich auf die Behandlung von mentalen, emotionalen und verhaltensassoziierten Problemen spezialisiert hat, ist die Psychiatrie. (9) Die vorliegende Studie (1) untersucht daher mittels Umfrage die Wahrnehmung und Einstellung von Forschenden und Behandelnden im psychiatrischen Bereich.
Fundierte Datenbasis
Die Datenbasis umfasste AutorInnen, die laut MEDLINE Indizierung zwischen April und Mai 2023 mindestens einen Artikel in einem psychiatrischen Journal veröffentlicht hatten. Insgesamt 42.667 AutorInnen wurden so ermittelt, per E-Mail angeschrieben und um Teilnahme an der Online-Umfrage gebeten. Der Fragebogen bestand aus mehreren Multiple-Choice-Fragen, einer offenen Fragestellung und kann hier eingesehen werden. Insgesamt gab es 987 Rückmeldungen, die hier in Form von Rohdaten und hier in Form von Kreuztabellen, aufbereitet für verschiedene demographische Variablen, eingesehen werden können.
Die Mehrheit der Befragten identifizierten sich als Forschende (46,51%) oder als gleichzeitig Forschende und Behandelnde (38,29%) im Bereich der Psychiatrie. Sie waren in Amerika (40,90%), Europa (37,66%) und Süd-Ost-Asien (9,04%) tätig, als Fakultätsmitglied/Hauptforschungsleitende (56,02%) oder leitende WissenschaftlerInnen oder KlinikerInnen mit mehr als zehn Jahren Berufserfahrung (57,72%).
Depression
Möglichkeiten und Grenzen einer homöopathischen Begleitung, Komplementärmedizin und Ordnungstherapie
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ISBN: 978-3-945150-64-1
Erscheinungsjahr: 2016
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Zum Shop »Wissensstand zu CAIM
Eine große Zahl der Befragten gab an, selbst noch keine Forschung spezifisch zu CAIM durchgeführt zu haben (59,47%). 47,91% hielten es aber für wertvoll, CAIM-Therapien zu beforschen und 35,71% sprachen sich für mehr finanzielle Förderung zu diesem Zweck aus. Die meisten Forschenden (93,81%) nutzten wissenschaftliche Literatur oder Konferenzen/Workshops, um weitere Informationen zu CAIM zu erhalten.
Mehr als die Hälfte (54,45%) der Behandelnden gab an, keine formale Ausbildung in irgendeinem CAIM-Bereich erhalten zu haben; allerdings hatten 48,74% an Fort- und Weiterbildungen zur Mind-Body-Medizin teilgenommen. Ein großer Teil hielt es für sinnvoll, dass Behandelnde im Bereich CAIM formal (39,76%) oder durch Fort- und Weiterbildung (51,28%) ausgebildet werden.
Einschätzung von CAIM-Verfahren
38,14% der Befragten stimmten zu, dass die meisten CAIM-Verfahren generell sicher seien, allerdings widersprachen 32,93% der Aussage, dass sie auch durchweg effektiv sind. Von den verschiedenen CAIM-Verfahren hielt 78,04% Mind-Body-Therapien wie Meditation, Biofeedback, Hypnose und Yoga für die vielversprechendsten hinsichtlich Prävention, Behandlung und Management von psychiatrischen Krankheitsbildern.
Die Mind-Body-Medizin wurde laut Auskunft der Behandelnden (85,64%) auch von ihren PatientInnen am meisten nachgefragt oder bereits genutzt, mit biologisch-basierten Anwendungen wie Vitaminen oder Nahrungsergänzungsmitteln auf Platz Zwei (76,07%). Entsprechend wurden Mind-Body-Verfahren (69,52%) und biologisch-basierte Anwendungen (36,52%) am häufigsten von den Behandelnden durchgeführt bzw. verordnet oder ihren PatientInnen empfohlen. Zurückhaltender war die Einstellung gegenüber Medizinsystemen wie z.B. Ayurveda, TCM und Homöopathie, die eine größere Zahl negativer Rückmeldungen erhielten.
Die Teilnehmenden wurden gefragt, welche Vorteile sie mit CAIM verknüpfen, worauf 69,53% mit „erweiterten Behandlungsoptionen für PatientInnen“ antworteten, 66,34% den „Fokus auf Prävention und Lebensstiländerungen“ betonten, 64,40% den „ganzheitlichen Ansatz für Gesundheit und Wohlbefinden“ und 58,59% eine „kulturelle und spirituelle Relevanz für bestimmte Gruppen“ sahen.
Befragt nach möglichen Problemen oder Herausforderungen mit CAIM nannten 92,97% das „Fehlen wissenschaftlicher Evidenz für Sicherheit und Wirksamkeit“, 88,78% das „Fehlen von Standardisierung in Produktqualität und Dosierung“, 77,03% die „Schwierigkeit, seriöse von unseriösen oder betrügerischen Angeboten zu unterscheiden“ und 76,35% „begrenzte Regulierung und Beaufsichtigung“.
Ein ähnliches Bild spiegeln auch die Aussagen zur offenen Fragestellung wider, wobei hier viele Antworten sinngemäß der Kategorie „ein integrativer Ansatz, der CAIM inkludiert, ist optimal“ zugeordnet werden konnten. Die meisten Antworten entfielen jedoch auf die Kategorie „Vorschlag weiterer Forschungsfragen, Populationen, Ansätze“, was das grundsätzliche Interesse an CAIM noch einmal unterstreicht.
Einschätzung
Eine Stärke der Umfrage ist mit Sicherheit die große Stichprobe aus Fachleuten, die noch dazu aktiv forschend tätig sind bzw. aktiv praktizieren, da sie ja erst kürzlich zu psychiatrischen Themen publiziert haben. Eine kleine Einschränkung: Da nur englische Journals berücksichtigt wurden, umfasst die Stichprobe auch nur TeilnehmerInnen, die des Englischen mächtig sind. Eine weitere kleine Unausgeglichenheit ist die Tatsache, dass mehr Forschende als Behandelnde inkludiert wurden.
Etwas stärker fällt wahrscheinlich die Begrifflichkeit ins Gewicht: „CAIM“ ist ein Sammelbegriff, der mitunter stark heterogene Medizinsysteme und Verfahren umfasst. Bei ihren Antworten zu Fragen, die generell auf CAIM abzielten, mussten die Teilnehmenden ihre Gedanken also verallgemeinern – eine Umfrage, die spezifischer nach einzelnen Therapien bzw. Verfahren fragt, könnte die bisherigen Ergebnisse vielleicht gewinnbringend ergänzen.
Literatur zu "Was halten Psychiatrie-Experten von CAIM?"
1) Ng JY, Kochhar J, Cramer H. An international, cross-sectional survey of psychiatry researchers and clinicians: perceptions of complementary, alternative, and integrative medicine. Front Psychiatry. 2024 Aug 14;15:1416803. doi: 10.3389/fpsyt.2024.1416803. PMID: 39205853; PMCID: PMC11349733. Link
2) World Health Organization. Mental disorders. World Health Organization (2022). Link
3) Werneke U, Turner T, Priebe S. Complementary medicines in psychiatry: review of effectiveness and safety. Br J Psychiatry. (2006) 188:109–21. doi: 10.1192/bjp.188.2.109. Link
4) Wemrell M, Olsson A, Landgren K. The use of complementary and alternative medicine (CAM) in psychiatric units in Sweden. Issues Ment Health nursing. (2020) 41:946–57. doi: 10.1080/01612840.2020.1744203. Link
5) Clossey L, DiLauro MD, Edwards JP, Hu C, Pazaki H, Monge A, et al. Complementary and alternative medicine (CAM) use among mental health consumers. Community Ment Health J. (2023) 59:1549–59. doi: 10.1007/s10597-023-01164-4. Link
6) Qureshi NA, Al-Bedah AM. Mood disorders and complementary and alternative medicine: a literature review. Neuropsychiatr Dis Treat. (2013) 14:639–58. doi: 10.2147/NDT.S43419. Link
7) Cicero AF, Minervino A. Combined action of SAMe, Folate, and Vitamin B12 in the treatment of mood disorders: a review. Eur Rev Med Pharmacol Sci. (2022) 26:2443–59. doi: 10.26355/eurrev_202204_28479. Link
8) Patel SJ, Kemper KJ, Kitzmiller JP. Physician perspectives on education, training, and implementation of complementary and alternative medicine. Adv Med Educ practice. (2017) 25:499–503. doi: 10.2147/AMEP.S138572. Link
9) Stein DJ, Phillips KA, Bolton D, Fulford KW, Sadler JZ, Kendler KS. What is a mental/psychiatric disorder? From DSM-IV to DSM-V. Psychol Med. (2010) 40:1759–65. doi: 10.1017/S0033291709992261. Link