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Wald oder Feld in der Patientenversorgung?

Wald oder Feld in der Patientenversorgung?

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Naturheilkunde Integrative Medizin Komplementärmedizin

Wohl jede*r kann bestätigen, dass ein Aufenthalt in der Natur guttut. Inwiefern diese Tatsache für die Patientenversorgung nutzbar ist, wird zunehmend unter dem Begriff der Nature-based Therapies erforscht. Dabei gibt es eine spannende Frage: Welche Rolle spielt die Art des jeweiligen Naturraums für den Effekt auf die Patient*innen – wirken alle Landschaften gleich oder gibt es Unterschiede?

Hochsensible Proband*innen

Ein Forscherteam aus Freiburg ging dieser Frage mit einem interessanten Ansatz nach. (1) Sie rekrutierten als Proband*innen sogenannte Highly Sensitive Persons (HSP). Menschen mit Hochsensibilität zeichnen sich dadurch aus, dass sie Reize intensiver erleben als andere Menschen (2) und auf diese mit deutlich stärkeren Emotionen reagieren. (3)

Für die vorliegende Studie ist dies in doppeltem Sinne ein Vorteil. Denn zum einen müssten die Besonderheiten unterschiedlicher Naturräume in ihrer Auswirkung somit deutlich hervortreten. Zum anderen sind Hochsensible aufgrund ihrer perzeptiven Niedrigschwelligkeit besonders empfänglich für Stress. (4,5) Sie müssten also auch in hohem Maße vom Naturempfinden profitieren (6), denn eine stresslindernde Wirkung ist bereits dokumentiert worden. (7-22)

16 Proband*innen mit nachgewiesener Hochsensibilität, d.h. einer Punktzahl ≥ 18 im Sensitivity and Progressing Questionnaire (SV12), wurden in die Studie eingeschlossen. Ihr Alter lag im Mittel bei 43 Jahren, nur ein Proband war männlich, die anderen weiblich.

Wald versus Feld

Als Naturräume wurden Wald und Feld verglichen. Die jeweiligen Sinneseindrücke unterscheiden sich an beiden Orten. Beispielsweise bieten die Bäume des Waldes mehr Schutz vor Wind und Wetter als die Pflanzen im Feld. Auf den meist rechteckig angelegten Feldern herrscht in der Regel Monokultur, in Wäldern Artenvielfalt, was wiederum unterschiedliche Gerüche erzeugt. Das Blätterdach sorgt im Wald für ein charakteristisches Spiel aus Licht und Schatten, während das Feld einen freien Blick in den Himmel zulässt und weite Sicht in die Umgebung ermöglicht.

Konkret wurde für die Studie ein Mischwald aus Laub- und Nadelbäumen und ein mit Mais bepflanztes Feld in Freiburg im Breisgau ausgewählt, welches in der Ferne Sicht auf die Berge des Schwarzwaldes bietet. Die Proband*innen verbrachten in kleinen Gruppen von maximal sieben Menschen parallel eine Stunde am jeweiligen Ort. Durch den parallelen Aufenthalt in Wald und Feld sollte das Wetter als Faktor bestmöglich ausgeschlossen werden. Anschließend wurden sie in qualitativen Interviews zu ihrem Empfinden befragt. Nach einer Woche wechselten die beiden Gruppen den Ort für einen zweiten einstündigen Aufenthalt mit erneuter anschließender Befragung.

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Ergebnisse

Für beide Naturräume gaben die Proband*innen Gefühle von innerer Ruhe, innerer Reinigung, Stärkung, Ich-Konzentration, Körperbewusstsein, Freiheit, Freude und Verbundenheit an, allerdings in unterschiedlichem Verhältnis und teilweise in unterschiedlicher Qualität. Auffallend: Ein Gefühl der Geborgenheit (emotional shelter) wurde ausschließlich für den Wald angegeben.

Verteilung der Eindrücke in Wald und Feld
Abb. 1: Verteilung der Eindrücke in Wald und Feld

Innere Ruhe

Zum Gefühl innerer Ruhe trug laut Proband*innen die Tatsache bei, dass es sich um einen planmäßigen Aufenthalt hielt. So mussten sich die Gedanken nicht mehr um anstehende Verpflichtungen kreisen, sondern die Aufmerksamkeit konnte auf dem Hier und Jetzt verweilen.

Für den Wald wurde u.a. die Lichtstimmung als Faktor für einen „friedlichen“ Effekt benannt, ebenso gedämpfte Zivilisationsgeräusche. Auch auf „Verwurzelung“ und „Erdung“ wurde hingewiesen, „ohne dabei zu beschränkend zu sein“.

Das Feld wurde als „entspannt“, „frei“, „hell“, „weit“ und „im positiven Sinne leer“ beschrieben. Ein Unterschied zum Wald ist jedoch, dass manche Menschen den Eindruck im Feld als „zu unbegrenzt“ und „zu viel Weite“ empfanden. Manche beklagten zu viel Wind, brauchten beispielsweise „hohe Mais-Pflanzen im Rücken“ oder wünschten sich einen Hochsitz, um zu sehen, ob jemand käme.

Innere Reinigung

Faktoren, die ein Gefühl der inneren Reinigung begünstigten, wurden im Wald etwa umschrieben mit „das Grüne“, „Frische“, „reine Luft“, „kühler“ oder „feucht“. Die Proband*innen gaben an, dass dies auf sie „abfärbte“ und sie in der Lage waren, ihre Gedanken und Gefühle zu ordnen. Was sie zuvor belastet habe, konnte nun „abgeladen“ werden.

Im Feld wurde ein vergleichbares Gefühl deutlich seltener geäußert. Zwei Interviewte gaben sogar an, dass in diesem Aspekt für sie der Aufenthalt im Wald besser funktioniert hat.

Stärkung

Umschreibungen von Stärkung überwiegen ebenfalls deutlich für den Wald, z.B. mit „kräftigender Atmosphäre“, „aktiver“, „inspirierend“ oder „Energie“. Teilweise wurde dies mit dem abwechslungsreichen Input an Sinneseindrücken begründet.

Für das Feld ist die Lage nicht so eindeutig. Nur drei Interviewte fühlten sich gekräftigt, zwei gaben sogar an, „müde geworden“ zu sein, einer fühlte sich geistig wach, aber körperlich erschöpft.

Ich-Konzentration und Körperbewusstsein

Das Besinnen auf sich selbst wurde von den Proband*innen beschrieben mit „Ruhe“, „Schweigen“ bzw. Ausbleiben von Zivilisationsgeräuschen, „Abwesenheit von Ablenkungen“. So seien sie in der Lage gewesen, „zu tun was Du willst, ohne Rücksicht darauf, was andere Menschen denken“.

Es habe einen Wechsel gegeben von „ich muss noch“ zu „machen“ zu „sein“. Auf diese Weise konnten sich die Interviewten „selbst spüren“, „Zweifel loslassen“, „der inneren Stimme folgen“ und „Harmonie“ erleben.

Faktoren, die dies begünstigen, sind offenbar sowohl Ausruhen als auch körperliche Anstrengung, z.B. Bewegung über Maisstoppel oder unebenen Waldgrund, das Fühlen von Temperatur, Wind und Kälte. Manche Proband*innen legten sich auf den Boden oder lehnten sich an einen Baum und konnten dadurch wiederum ihren eigenen Körper besser spüren.

Freiheit

Gefühle der Freiheit waren im Wald und im Feld gleich verteilt, allerdings mit unterschiedlichen Ursprüngen. So entstand die Freiheit im Feld für zwei Proband*innen aus der Weite, während zwei andere im Wald ihre Freiheit daraus zogen, dass sie sich dort geschützt und „sicher vor Blicken“ wähnten. Zwei weitere Proband*innen fühlten sich sowohl im Wald als auch im Feld frei.

Freude und Verbundenheit

Freude wurde in erster Linie aus der „Schönheit der Natur“ gezogen, ihrer „Vielfalt und Diversität“, der „reizenden Unordnung“, den „Farben“ und „Formen“ von Pflanzen, Wurzeln, Steinen usw. Auch Gerüche und Geräusche, z.B. Vogelgesang, wurden genannt.

Dies alles lässt sich nicht vom Schlagwort der Verbundenheit trennen. Freude entstand aus der Verbundenheit mit den anderen Studienteilnehmenden, Tieren, Bäumen, der Natur insgesamt. Die Proband*innen spürten ein „Zugehörigkeitsgefühl“.

Geborgenheit

13 Interviewte nutzten Umschreibungen von Geborgenheit, wenn sie über ihren Aufenthalt im Wald sprachen. Wiederkehrende Aussagen in diesem Zusammenhang sind „umgeben sein“, „behütet“ und im positiven Sinn „gehalten werden“. Beispielhaft sei diese Aussage einer 67-jährigen Rentnerin genannt:

„I go into an organism that is one big living being that breathes, that welcomes me, you know, welcomes me, that makes me feel at home, that is authentic, alive, without any demands that I have to fulfill. I can completely be as I am. It is also a place of refuge, when I have to get rid of something like, let us say, grief or stress, but especially grief, the forest is very comforting for me.“

Stressfaktoren

Nicht unerwähnt bleiben sollte die Tatsache, dass die hochsensiblen Proband*innen nicht alle Eigenschaften der Naturräume positiv bewerteten. Einige empfanden sie teilweise auch als belastend, darunter das Wetter (Temperatur, Luftfeuchtigkeit), die Lichtverhältnisse (Dunkelheit), Eintönigkeit der Landschaft, Orientierungsverlust, Anwesenheit wilder Tiere (z.B. Hunde oder Wildschweine), Anwesenheit anderer Menschen (z.B. Radfahrer), aber auch Anzeichen von Umweltverschmutzung.

Einschätzung

Die vorliegende Studie weist in eine fruchtbare Richtung: Anstatt ein pauschales „Raus in die Natur“ zu empfehlen, kann es sinnvoll sein, therapeutisch spezifische Naturräume zu nutzen. Die Hypothese liegt nahe, dass Patient*innen mit Vertrauensproblemen oder fehlender Bindung von Aufenthalten im Wald stärker profitieren als im Feld; während Patient*innen, die sich eingeschränkt fühlen oder beispielsweise an Platzangst leiden, aus dem Naturraum Feld mehr Nutzen ziehen als aus dem Wald.

Beachtenswert auch der Hinweis, dass manche Aspekte der Naturräume von den hochsensiblen Menschen sogar als negativ empfunden wurden, unterstreicht dies doch einmal mehr, dass Medizin individuell und ganzheitlich auf den Patienten oder die Patientin abgestimmt sein sollte.

Ein wenig schade ist, dass sich unter den 16 Befragten lediglich ein Mann befand. Zukünftige Studien sollten hier auf eine gleichmäßigere Geschlechterverteilung achten. Spannend wären auch Vergleiche mit weiteren Naturräumen, Strände/Meere oder Seen böten sich beispielsweise an.

Literatur zu "Wald oder Feld in der Patientenversorgung?"

1) Oomen-Welke K, Hilbich T, Schlachter E, Müller A, Anton A, Huber R. Spending time in the forest or the field: qualitative semi-structured interviews in a randomized controlled cross-over trial with highly sensitive persons. Front Psychol. 2023 Nov 7;14:1207627. doi: 10.3389/fpsyg.2023.1207627. PMID: 38022960; PMCID: PMC10661274. Link

2) Aron, E. N., and Aron, A. (1997). Sensory-processing sensitivity and its relation to introversion and emotionality. J. Pers. Soc. Psychol. 73, 345–368. doi: 10.1037//0022-3514.73.2.345. Link

3) Vander Elst, T., Sercu, M., Van den Broeck, A., Van Hoof, E., Baillien, E., and Godderis, L. (2019). Who is more susceptible to job stressors and resources? Sensory-processing sensitivity as a personal resource and vulnerability factor. PLoS One 14:e0225103. doi: 10.1371/journal.pone.0225103. Link

4) Aron, E. N., Aron, A., and Jagiellowicz, J. (2012). Sensory processing sensitivity: a review in the light of the evolution of biological responsivity. Personal. Soc. Psychol. Rev. 16, 262–282. doi: 10.1177/1088868311434213. Link

5) Hinterberger, T., Galuska, D., and Galuska, J. (2019). Der SV12: Entwicklung eines klinischen Inventars zur Erfassung von Sensibilität und deren Verarbeitungsproblematiken. Compl. Med. Res. 26, 240–249. doi: 10.1159/000497283. Link

6) Setti, A., Lionetti, F., Kagari, R. L., Motherway, L., and Pluess, M. (2022). The temperament trait of environmental sensitivity is associated with connectedness to nature and affinity to animals. Heliyon 8:e09861. doi: 10.1016/j.heliyon.2022.e09861. Link

7) Park, B.-J., Tsunetsugu, Y., Kasetani, T., Hirano, H., Kagawa, T., Sato, M., et al. (2007). Physiological effects of shinrin-yoku (taking in the atmosphere of the forest)—using salivary cortisol and cerebral activity as indicators—. J. Physiol. Anthropol. 26, 123–128. doi: 10.2114/jpa2.26.123. Link

8) Li, Q. (2012). Forest medicine. Forest medicine, Ed. Q. Li . vol. 2, 1–316.

9) Ochiai, H., Ikei, H., Song, C., Kobayashi, M., Takamatsu, A., Miura, T., et al. (2015). Physiological and psychological effects of forest therapy on middle-aged males with high-normal blood pressure. Int. J. Environ. Res. Public Health 12, 2532–2542. doi: 10.3390/ijerph120302532. Link

10) Li, Q., Kobayashi, M., Kumeda, S., Ochiai, T., Miura, T., Kagawa, T., et al. (2016). Effects of forest bathing on cardiovascular and metabolic parameters in middle-aged males. Evid. Based Complement. Alternat. Med. 2016:2587381. doi: 10.1155/2016/2587381. Link

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20) Stier-Jarmer, M., Throner, V., Kirschneck, M., Immich, G., Frisch, D., and Schuh, A. (2021). The psychological and physical effects of forests on human health: a systematic review of systematic reviews and Meta-analyses. Int. J. Environ. Res. Public Health 18:1770. doi: 10.3390/ijerph18041770. Link

21) Grabowska-Chenczke, O., Wajchman-Świtalska, S., and Woźniak, M. (2022). Psychological well-being and nature relatedness. Forests 13:1048. doi: 10.3390/f13071048. Link

22) Zwart, R., and Ewert, A. (2022). Human health and outdoor adventure recreation: perceived health outcomes. Forests 13:869. doi: 10.3390/f13060869. Link

Michèl Gehrke, M.A.
Michèl Gehrke, M.A.

Pressesprecher

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