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Ist Cannabis wirksam in der Behandlung von chronischen Rückenschmerzen?

Ist Cannabis wirksam in der Behandlung von chronischen Rückenschmerzen?

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Phytotherapie Schmerz Komplementärmedizin

Mit geschätzt etwa 160 Millionen Konsumenten weltweit ist Cannabis vor allem als Freizeit-Droge bekannt, gerät allerdings auch immer stärker als potenzielles Medikament in den Fokus – zum Beispiel in der Behandlung von chronischen Schmerzen. Eine aktuelle Übersichtsarbeit aus Großbritannien gibt einen Überblick über bisherige Forschungsergebnisse und noch bestehende Forschungslücken.

Rückenschmerzen sind beinahe so etwas wie ein Volksleiden. Vor allem im unteren Rücken kommen sie aktuell bei etwa einem Viertel der Bevölkerung vor, wobei aufgrund des steigenden Alters in der Gesellschaft noch mit einer Zunahme gerechnet wird. (2) Problematisch wird das Geschehen insbesondere dann, wenn die Schmerzen sich chronifizieren, also immer wieder auftauchen oder gar nicht mehr verschwinden wollen. Denn dann werden häufig Schmerzmittel eingenommen, die ihrerseits wieder Nebenwirkungen verursachen können. Opiate können sogar abhängig machen. Andere Optionen sind daher gefragt.

Bei Schmerzen im Zuge einer rheumatoiden Arthritis zeigte sich Cannabis im Vergleich zu Placebo schmerzlindernd. (3) Doch wie sieht es bei chronischen Rückenschmerzen aus, die ja ganz verschiedene Ursachen haben können? Welche Einnahmearten sind sinnvoll? Welche Dosierungen? Welche Frequenz? Und natürlich: Was weiß man über mögliche Risiken, die wiederum Cannabis als Arzneimittel bergen könnte? Forscher*innen aus Großbritannien gingen diesen Fragen nun mit einer Übersichtsarbeit (1) auf den Grund.

Datenbasis

Die Autor*innen führten eine Literaturrecherche in PubMed, Google und Web of Science durch mit den Schlagworten Cannabis, Marihuana, Cannabinoid und (chronischer) (Rücken-)Schmerz. Studien, in denen medizinisches Cannabis bei Erkrankungen zum Einsatz kam, die nicht mit Schmerz assoziiert sind, wurden ausgeschlossen. Ebenso Studien an Tieren und Veröffentlichungen, die älter als zehn Jahre sind. Berücksichtigt wurden nur Veröffentlichungen in peer-reviewten Zeitschriften. So blieben von 4192 gescreenten Arbeiten 14 für die qualitative Analyse übrig, auf die nachfolgend in Auszügen eingegangen wird.

Schmerzen

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Michael Elies · Annette Kerckhoff

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Wirkmechanismus: Opioide – Cannabinoide

Opioide wirken an bestimmten Zellen vor allem im zentralen Nervensystem, die Opioid-Rezeptoren besitzen. Dort unterdrücken entsprechende Medikamente sozusagen die Schmerzsignale. (4) Die Wirkung von Cannabinoiden wird hingegen mit Bezug auf das Endocannabinoid-System erklärt. „Endogen“ beschreibt dabei körpereigene Prozesse, die in der Regel ohne äußeren Einfluss stattfinden. So produziert der Körper selbst Endocannabinoide als Stressreaktion – z.B. infolge von Gewebeverletzungen – welche wiederum bestimmte Rezeptoren aktivieren. Zugeführte Cannabinoide können die Empfindlichkeit dieser Cannabinoid-Rezeptoren vermindern. (5)

Aufgrund dieser unterschiedlichen Wirkmechanismen von Opioiden und Cannabinoiden könnte bei Schmerzen eine kombinierte Verschreibung sinnvoll sein. So zeigte sich etwa in einer Meta-Analyse 19 vorklinischer Studien von Nielson et al. (6), dass durch die zusätzliche Gabe von Cannabinoiden die Opioid-Dosis verringert werden konnte, ohne dass der analgetische Effekt nachließ. Die nötige Menge Morphin für eine mittlere wirksame Dosis war mit Cannabinoiden zusammen beispielsweise 3,6 mal geringer als bei der alleinigen Verabreichung von Morphin.

Wirksamkeit von Cannabis

In einem systematischen Review mit 24 RCTs und insgesamt 1334 Patient*innen fanden Aviram et al. (7) eine Verbesserung neuropathischer Schmerzsymptome durch inhaliertes Cannabis im Vergleich zu Placebo – allerdings waren die Ergebnisse nur in zwei der berücksichtigten 24 Studien auch klinisch signifikant.

Madden et al. (8) konnten in ihrem systematischen Review mit vier RCTs hingegen keine signifikante Verbesserung von Schmerzsymptomen bei orthopädischen Patient*innen für das oral eingenommene synthetische Cannabinoid Nabilon im Vergleich zu anderen Analgetika finden. Noch dazu wies Nabilon stärkere Nebenwirkungen auf. Nabiximols, eine Pflanzenextraktmischung aus den Blüten der Hanfpflanze zeigte jedoch, als orales Spray verabreicht, wiederum teilweise eine höhere schmerzlindernde Wirkung als Placebo.

Forschungslücken

Allgemein gesprochen zeigen Madden et al., dass medizinisches Cannabis vor allem in höheren Dosen effektiver ist – ohne spezifische Angaben zu machen, welche Dosis optimal wäre. Auch aus anderen Arbeiten (9) lassen sich kaum Standard-Dosierungen für die Praxis ableiten.

Erschwerend kommt hinzu, dass sich die meisten RCTs auf einen isolierten Wirkstoff konzentrieren, obwohl medizinisches Cannabis vielmehr eine Kombination aus Wirkstoffgruppen darstellt. Die Arbeiten sind daher oft nicht direkt miteinander vergleichbar oder könnten hinsichtlich ihrer Relevanz für die Praxis sogar zu verfälschten Ergebnissen führen. (10) Tatsächlich scheint es ein Streitpunkt zu sein, ob RCTs überhaupt das richtige Mittel sind, um die Wirksamkeit von medizinischem Cannabis zu eruieren. Die zurückhaltenden Ergebnisse vieler gegenwärtiger RCTs stehen jedenfalls im Gegensatz zu mehreren Patientenberichten, was die Frage aufwirft, ob zukünftige Studien nicht ggf. einen stärkeren Fokus auf die Patienteneinschätzungen legen sollten. (11, 12)

Nebenwirkungen von Cannabis

Wird Cannabis als Medikament zur Schmerzlinderung in Betracht gezogen, so muss bedacht werden, dass bei etwa einem Zehntel der Konsumenten das Risiko eines Substanzmissbrauchs mit den damit verbundenen Effekten besteht. (13, 14)

Entscheidend für das Auftreten von Nebenwirkungen ist auch die Darreichungsform. So fanden Aviram et al. (7, 15) die meisten unerwünschten Effekte bei mittels Pfeifenrauchen inhaliertem Cannabis. Verglichen wurde es mit dem oral eingenommenen Analogon Dronabinol.

Rauchen wirkt sich generell schädlich u.a. auf den Atmungsapparat aus, was Ärzt*innen, die geschworen haben, ihren Patient*innen nicht zu schaden, in ein Dilemma bringen könnte. (16-18)

Wang et al. (19) fanden in ihrer systematischen Untersuchung von 23 RCTs keine Häufung von schweren Nebenwirkungen bei medizinischem Cannabis gegenüber den Kontrollen – bei leichteren Nebenwirkungen allerdings schon, hier wiederum vor allem bei oral eingenommenem THC. Die unerwünschten Nebenwirkungen betreffen dabei in erster Linie das Nervensystem in Form von psychiatrischen Störungen. Auch hier wäre seitens der Ärztin oder des Arztes also ein Abwägen nötig. (20)

Fazit

Die Tatsache, dass lediglich 14 Studien für die Analyse eingeschlossen werden konnten, zeigt, dass hier Forschungsbedarf besteht. Zum einen, so geben die Autor*innen an, mussten sie viele Studien ausschließen, die mit Tieren durchgeführt wurden – die Ergebnisse lassen sich nicht einfach auf den Menschen übertragen. Zum anderen vergleichen viele Arbeiten Cannabis mit Placebo, aber nur wenige mit anderen Medikamenten. Letzteres wäre für die klinische Praxis sicher wertvoller. Der Ansatz, durch Cannabis Opioide einzusparen, erscheint jedenfalls vielversprechend. Zukünftige Studien sollten dies berücksichtigen und dabei auch die Frage nach der optimalen Dosierung im Blick behalten. Das Forschungsfeld ist spannend und das Stigma von Cannabis als Freizeitdroge sollte neuen Arbeiten nicht im Wege stehen.

Literatur zu "Ist Cannabis wirksam in der Behandlung von chronischen Rückenschmerzen?"

1) Damisa J, Petohazi A, Jalil H, Richardson M. Is Cannabis Effective in the Treatment of Chronic Back Pain? Cureus. 2023 Aug 9;15(8):e43220. doi: 10.7759/cureus.43220. PMID: 37692601; PMCID: PMC10490377. Link

2) Manchikanti L, Singh V, Falco FJ, Benyamin RM, Hirsch JA. Epidemiology of low back pain in adults. Neuromodulation. 2014 Oct;17 Suppl 2:3-10. doi: 10.1111/ner.12018. PMID: 25395111. Link

3) Blake DR, Robson P, Ho M, Jubb RW, McCabe CS. Preliminary assessment of the efficacy, tolerability and safety of a cannabis-based medicine (Sativex) in the treatment of pain caused by rheumatoid arthritis. Rheumatology (Oxford). 2006 Jan;45(1):50-2. doi: 10.1093/rheumatology/kei183. Epub 2005 Nov 9. PMID: 16282192. Link

4) Khan SP, Pickens TA, Berlau DJ. Perspectives on cannabis as a substitute for opioid analgesics. Pain Manag. 2019 Mar 1;9(2):191-203. doi: 10.2217/pmt-2018-0051. Epub 2019 Jan 25. PMID: 30681029. Link

5) Hill KP, Palastro MD, Johnson B, Ditre JW. Cannabis and Pain: A Clinical Review. Cannabis Cannabinoid Res. 2017 May 1;2(1):96-104. doi: 10.1089/can.2017.0017. PMID: 28861509; PMCID: PMC5549367. Link

6) Nielsen S, Sabioni P, Trigo JM, Ware MA, Betz-Stablein BD, Murnion B, Lintzeris N, Khor KE, Farrell M, Smith A, Le Foll B. Opioid-Sparing Effect of Cannabinoids: A Systematic Review and Meta-Analysis. Neuropsychopharmacology. 2017 Aug;42(9):1752-1765. doi: 10.1038/npp.2017.51. Epub 2017 Mar 22. PMID: 28327548; PMCID: PMC5520783. Link

7) Aviram J, Samuelly-Leichtag G. Efficacy of Cannabis-Based Medicines for Pain Management: A Systematic Review and Meta-Analysis of Randomized Controlled Trials. Pain Physician. 2017 Sep;20(6):E755-E796. PMID: 28934780. Link

8) Madden K, George A, van der Hoek NJ, Borim FM, Mammen G, Bhandari M. Cannabis for pain in orthopedics: a systematic review focusing on study methodology. Can J Surg. 2019 Dec 1;62(6):369-380. doi: 10.1503/cjs.001018. PMID: 31782292; PMCID: PMC6877377. Link

9) Nugent SM, Kansagara D. Cannabis for Chronic Pain: We Simply Don't Know. Pain Med. 2020 Jun 1;21(6):1091-1092. doi: 10.1093/pm/pnz168. PMID: 31343703. Link

10) Namdar D, Voet H, Ajjampura V, Nadarajan S, Mayzlish-Gati E, Mazuz M, Shalev N, Koltai H. Terpenoids and Phytocannabinoids Co-Produced in Cannabis Sativa Strains Show Specific Interaction for Cell Cytotoxic Activity. Molecules. 2019 Aug 21;24(17):3031. doi: 10.3390/molecules24173031. PMID: 31438532; PMCID: PMC6749504. Link

11) Hatswell AJ, Baio G, Berlin JA, Irs A, Freemantle N. Regulatory approval of pharmaceuticals without a randomised controlled study: analysis of EMA and FDA approvals 1999-2014. BMJ Open. 2016 Jun 30;6(6):e011666. doi: 10.1136/bmjopen-2016-011666. PMID: 27363818; PMCID: PMC4932294. Link

12) Nutt D, Bazire S, Phillips LD, Schlag AK. So near yet so far: why won't the UK prescribe medical cannabis? BMJ Open. 2020 Sep 21;10(9):e038687. doi: 10.1136/bmjopen-2020-038687. Erratum in: BMJ Open. 2022 Mar 10;12(3):e038687corr1. PMID: 32958492; PMCID: PMC7507889. Link

13) Flórez-Salamanca L, Secades-Villa R, Hasin DS, Cottler L, Wang S, Grant BF, Blanco C. Probability and predictors of transition from abuse to dependence on alcohol, cannabis, and cocaine: results from the National Epidemiologic Survey on Alcohol and Related Conditions. Am J Drug Alcohol Abuse. 2013 May;39(3):168-79. doi: 10.3109/00952990.2013.772618. PMID: 23721532; PMCID: PMC3755735. Link

14) Lopez-Quintero C, Pérez de los Cobos J, Hasin DS, Okuda M, Wang S, Grant BF, Blanco C. Probability and predictors of transition from first use to dependence on nicotine, alcohol, cannabis, and cocaine: results of the National Epidemiologic Survey on Alcohol and Related Conditions (NESARC). Drug Alcohol Depend. 2011 May 1;115(1-2):120-30. doi: 10.1016/j.drugalcdep.2010.11.004. Epub 2010 Dec 8. PMID: 21145178; PMCID: PMC3069146. Link

15) Ware MA, Wang T, Shapiro S, Robinson A, Ducruet T, Huynh T, Gamsa A, Bennett GJ, Collet JP. Smoked cannabis for chronic neuropathic pain: a randomized controlled trial. CMAJ. 2010 Oct 5;182(14):E694-701. doi: 10.1503/cmaj.091414. Epub 2010 Aug 30. PMID: 20805210; PMCID: PMC2950205. Link

16) Cranford JA, Bohnert KM, Perron BE, Bourque C, Ilgen M. Prevalence and correlates of "Vaping" as a route of cannabis administration in medical cannabis patients. Drug Alcohol Depend. 2016 Dec 1;169:41-47. doi: 10.1016/j.drugalcdep.2016.10.008. Epub 2016 Oct 15. PMID: 27770657; PMCID: PMC5140730. Link

17) MacCallum CA, Russo EB. Practical considerations in medical cannabis administration and dosing. Eur J Intern Med. 2018 Mar;49:12-19. doi: 10.1016/j.ejim.2018.01.004. Epub 2018 Jan 4. PMID: 29307505. Link

18) Herrmann ES, Cone EJ, Mitchell JM, Bigelow GE, LoDico C, Flegel R, Vandrey R. Non-smoker exposure to secondhand cannabis smoke II: Effect of room ventilation on the physiological, subjective, and behavioral/cognitive effects. Drug Alcohol Depend. 2015 Jun 1;151:194-202. doi: 10.1016/j.drugalcdep.2015.03.019. Epub 2015 Apr 6. PMID: 25957157; PMCID: PMC4747424. Link

19) Wang T, Collet JP, Shapiro S, Ware MA. Adverse effects of medical cannabinoids: a systematic review. CMAJ. 2008 Jun 17;178(13):1669-78. doi: 10.1503/cmaj.071178. PMID: 18559804; PMCID: PMC2413308. Link

20) Sagy I, Peleg-Sagy T, Barski L, Zeller L, Jotkowitz A. Ethical issues in medical cannabis use. Eur J Intern Med. 2018 Mar;49:20-22. doi: 10.1016/j.ejim.2018.01.016. PMID: 29482739. Link

Michèl Gehrke, M.A.
Michèl Gehrke, M.A.

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