Welche Behandlungsmerkmale schätzen Patienten?
Bei der Bewertung von Therapien und Interventionen werden in Studien häufig lediglich die direkten Effekte, das Ergebnis oder die sogenannten Endpunkte der Behandlung, berücksichtigt. Gesundheitseffekte sind jedoch vielfältig und komplex. Oft ziehen Patienten auch indirekt einen Nutzen aus dem Prozess der Behandlung, etwa in Form von wiedergewonnener Autonomie, Zufriedenheit etc. Diese und weitere Faktoren können einen Einfluss auf das Wohlbefinden und die Genesung haben – doch welche Bedeutung messen Patienten einzelnen Merkmalen des Behandlungsprozesses zu? Welche Behandlungsmerkmale schätzen sie am meisten?
Diesen Fragen ging ein Forscher-Team der Berliner Charité in einer von der Carstens-Stiftung geförderten Studie nach. Dabei machten sich die Forscher eine Methode der Marktforschung zunutze, die Conjoint-Analyse. Bei diesem Verfahren werden potenziellen Kunden Produktalternativen mit verschiedenen Ausstattungsmerkmalen und Preisen vorgestellt, verbunden mit der Bitte, sich für jeweils eine Variante zu entscheiden.
Entscheiden sie sich z.B. eher für den roten Opel mit Ledersitzen oder für den deutlich teureren schwarzen BMW, der zwar etwas mehr Leistung hat, aber dafür nur Veloursitze bietet? Je nach Zahl der Entscheidungsaufgaben und Wahl-Alternativen können auf diese Weise Rückschlüsse darauf gezogen werden, welche Merkmale den Kunden gegenüber anderen besonders wichtig sind und für welche sie sogar bereit wären, mehr zu zahlen.
Übertragen auf Behandlungsprozesse mussten zunächst einmal die Merkmale ermittelt werden, die als charakteristisch für einen solchen Prozess gelten können. Durch eine systematische Literaturrecherche, Hospitationen, Befragungen von Ärzten und Interviews mit Patienten, die Akupunktur, Homöopathie und die Allgemeinmedizin in Anspruch nahmen, konnten schließlich fünf Prozess-Merkmale identifiziert werden: Aktives Zuhören des Arztes, die Zeit, die sich der Arzt nimmt, die Ganzheitlichkeit der Behandlung, der Umfang der vermittelten Informationen und das Gefühl, als Patient am Heilungsprozess mitwirken zu können. Hinzugenommen wurde noch ein Kosten-Merkmal. Alle Merkmale konnten jeweils drei Ausprägungen aufweisen, sodass insgesamt 729 mögliche Szenarien entstanden. Aus diesen wurden 18 Szenarien gewählt und auf sechs Entscheidungsaufgaben verteilt. Insgesamt wurde der Fragebogen mit diesen sechs Entscheidungsaufgaben an 608 Patienten in Praxen der Akupunktur, Homöopathie und der Allgemeinmedizin ausgegeben. Die Rücklaufquote betrug 47%, 263 Fragebogen konnten letztendlich ausgewertet werden.
Wie die Auswertung zeigte, unterschieden sich die Präferenzen beim Behandlungsprozess nicht wesentlich zwischen den Patienten in Akupunktur-, homöopathischer oder allgemeinmedizinischer Behandlung. Die Attribute „Aktives Zuhören“ und „Zeit“ waren in allen Gruppen die wichtigsten. Da beide immanente Bestandteile der Akupunktur (chinesische Diagnostik) und Homöopathie (Erstanamnese) sind, scheinen diese Attribute dort einen Beitrag zum Behandlungseffekt zu leisten. Allgemeinmediziner sehen in der Regel mehr Patienten in der gleichen Zeit. Gleichzeitig zeigten sich die allgemeinmedizinischen Patienten kostensensibler, waren also weniger bereit, etwas zur Behandlung zuzuzahlen, als die Patienten der Akupunktur- und Homöopathie-Gruppen. Dies könnte daran liegen, dass eine private Zuzahlung in der komplementären Medizin nicht unüblich ist, diese Patienten also schon daran gewöhnt sind, da die gesetzlichen Krankenkassen die Verfahren in diesen Bereichen nicht vollständig bzw. flächendeckend übernehmen.
Einschätzung
In der Diskussion um eine patienten-zentriertere Versorgung in Deutschland sollten die Ergebnisse dieser Studie berücksichtigt werden. Vor allem eine Stärkung der medizinischen Gesprächsleistung sollte in Betracht gezogen werden.
Literatur
Adam D, Keller T, Mühlbacher A, Hinse M, Icke K, Teut M, Brinkhaus B, Reinhold T. The Value of Treatment Processes in Germany: A Discrete Choice Experiment on Patient Preferences in Complementary and Conventional Medicine. Patient. 2019 Jun;12(3):349-360. doi: 10.1007/s40271-018-0353-1. Abstract