Seele und Sehen: Das Auge als Spiegelbild der Seele
Aufgrund meiner langjährigen Berufserfahrung habe ich die Erkenntnis gewonnen, dass Augenkrankheiten und Sehstörungen in vielen Fällen seelische Hintergründe haben. Daher ist es wichtig, neben dem rein wissenschaftlichen Denken der klassischen Schulmedizin einen weiteren Ansatz in die Therapie miteinzubeziehen: Was ist die tiefere Bedeutung der (Augen)-Erkrankung?
Das Auge wird auch als Spiegel der Seele bezeichnet. Ein Spiegel reflektiert, was ihm gegenübersteht und gibt ein Bild wieder. Er macht sichtbar, was man sonst an sich selbst nicht wahrnehmen kann, z. B. das eigene Gesicht und vor allem die eigenen Augen. Wenn man in den Spiegel schaut, dann sieht man den eigenen Gesichts- und Augenausdruck, den eigenen seelischen Zustand, das eigene Wesen. Man erkennt die momentane Gemütsverfassung und – z. B. am Pupillenspiel – selbst unwillkürliche Reaktionen. Im Gegensatz zum Hörorgan, dessen Sinneseindrücke wir nicht beliebig abschalten können, sind die Seheindrücke der Augen dank der Lider ausschaltbar, z. B. bei Müdigkeit, im Schlaf oder zum Ausruhen. Man kann aber auch bewusst die Augen schließen, um sich der Innenwelt zuzuwenden, z. B. bei der Meditation. Andererseits kann man die Augen aber auch schließen, um sich vor Problemen der Außenwelt zu schützen. So verbergen sich hinter Funktionsstörungen der Augen oft Probleme. Dabei kann es um Verluste gehen (Partner, Arbeit, Kinder, Besitz), aber auch um Schwierigkeiten mit Nähe und Distanz, Identität und Realität. Der Augenarzt und Psychoanalytiker Wolfgang Schultz-Zehden erkannte die seelischen Aspekte von Augenkrankheiten und führte gegen viele Widerstände seiner Kollegen die Psychosomatik in die Augenheilkunde ein. Ist nun die Sehfunktion des Auges – wodurch auch immer – gestört, der "Blick" sozusagen getrübt, so findet man in der Regel eine Störung im physikalischen Anteil des Sehaktes, allerdings aber auch im seelischen Anteil des Sehens und Wahrnehmens.
Im Zusammenhang mit Augensymptomen kann man sich daher folgende Fragen stellen:
Vor was verschließe ich die Augen?
Was kränkt mich so sehr, dass es mich krankmacht?
Was kann oder will ich nicht mehr sehen bzw. wahrhaben?
Warum habe ich Angst davor, was kann ich nicht mehr klar sehen?
Warum habe ich Angst, nach vorn (in die Zukunft) zu blicken?
Warum habe ich Angst, das eigene Leben in Augenschein zu nehmen?
Was stört mich in meiner Umwelt, an mir, an meiner Lebenssituation, dass ich nicht mehr hinsehen kann oder will?
Stört es mich, weil ich schon weiß, dass etwas geändert werden muss?
Was wollen mir meine Lebensumstände sagen, zu welcher Einsicht soll ich kommen?
Stress kann kurzsichtig machen
Störungen der visuellen Wahrnehmung machen sich als Verschwommensehen, Nebelsehen, Verzerrtsehen, Dunklersehen oder "Nicht mehr sehen", sprich: Erblindung bemerkbar. Um das Ausmaß der Sehbehinderung zu erfassen, wird die Sehschärfe mit speziellen Sehprobentafeln überprüft, und zwar zunächst ohne Brillengläser und anschließend mit den besten anpassbaren Gläsern. Die Sehschärfenminderung steht in der Regel im Zusammenhang mit dem Grad der Fehlsichtigkeit oder der Schwere einer Erkrankung. Ändert sich etwas an der optischen Sinneswahrnehmung, ist der Mensch gestört, er kann die Welt nicht mehr so wahrnehmen wie früher. Das Symptom bedarf nicht nur einer gründlichen schulmedizinischen Abklärung, sondern es will auch darauf hinweisen, dass es bei dem Betroffenen etwas gibt, zumeist im Unterbewusstsein, was er nicht sieht, nicht sehen kann oder auch nicht sehen will. Eine häufige Ursache für eine Sehstörung ohne erkennbare Erkrankung des Auges ist Stress.
Stress ist ein bekannter, aber leider immer noch unterschätzter Faktor in der Krankheitsentstehung
In Stresssituationen haben wir einen instinktiven Reaktionsmechanismus: Wir spannen die Muskeln an, gehen in Abwehrstellung, sind sozusagen sprungbereit und somit aktiviert für den Kampf. Kampf war ursprünglich ein Nahkampf, meist Zweikampf. Das Auge musste sich akut und stark auf die Nähe einstellen und wurde bedarfsweise kurzsichtig. Wenn es den Nahkampf in alter Weise auch nicht mehr gibt, so reagiert das Auge bei Belastungen immer noch ähnlich.
Das andere Augenbuch
Sinn und Bedeutung von Sehstörungen und Augenkrankheiten – über das Augensymptom einen Blick in die eigene Seele werfen
Sinn und Bedeutung von Sehstörungen und Augenkrankheiten – über das Augensymptom einen Blick in die eigene Seele werfen
Ilse Strempel
ISBN: 978-3-945150-98-6
Erscheinungsjahr: 2018, 3. Aufl.
22,00 EUR
Zum Shop »Dieser Vorgang wird Akkommodation (Anpassung) genannt. Beim Blick in die Nähe zieht sich der Ringmuskel zusammen, wobei er etwas nach innen und vorne rückt. Dadurch werden die Segelfädchen entspannt, und die Linse nimmt eine kugelige Form an. Bleibt dieser Spannungszustand erhalten, z. B. durch permanente Naharbeit, kann es zu einem so genannten Akkommodations-Krampf kommen. Das Auge bleibt dann auf die Nähe eingestellt und kann sich nicht mehr entspannen, was für den Blick in die Ferne erforderlich ist. Hinzukommt die stressbedingte Verkrampfung der äußeren Augenmuskeln, die möglicherweise durch Verformung des Augapfels die Kurzsichtigkeit unterstützt. Die richtige Therapie wären dann Entspannungsmethoden und spezielle Augenübungen. Meistens wird jedoch eine Brille angepasst und die Störung damit überdeckt, aufrechterhalten und nur scheinbar zum Verschwinden gebracht.
Nachlassen der Sehschärfe als Anstoß zu Veränderung
Das Nachlassen der Sehschärfe kann bedeuten, dass man etwas nicht mehr mit ansehen kann oder will, z. B. das innere seelische Leid. Es bedeutet aber unbewusst auch, dass man die Welt ausblendet, als wenn es sie nicht gäbe. Es gibt viele Augenkrankheiten, die sich zunächst in einer leichten Funktionsstörung äußern und später zu einer teilweise unaufhaltsamen Sehverschlechterung führen. Irgendwann darf der Betroffene dann nicht mehr Autofahren, später kann er kaum noch oder gar nicht mehr lesen oder keine Farben mehr sehen. Dies trifft z. B. bei Makuladegeneration, Diabetes oder dem Grünen Star zu. Der Beruf kann nicht mehr ausgeübt werden, die Orientierung und Mobilität sind eingeschränkt, man wird von anderen Menschen und technischen Hilfsmitteln abhängig. Wenn dann der Zeitpunkt gekommen ist, an dem sich diese Situation nicht mehr verdrängen oder leugnen lässt, geraten viele Patienten in eine Sinnkrise. Das frühere Leben mit Beruf, Reisen, Museen und Theater hat sich geändert. Lebensfreude, die damit verbunden war, ist dahin, und da es kein Zurück mehr gibt, stellen sich Resignation und Depression ein.
Geh Du vor", sagte die Seele zum Körper, "auf mich hört er nicht, vielleicht hört er auf dich?"
"Ich werde krank werden", sprach der Körper zur Seele, "dann wird er Zeit für dich haben."
(U. Schaffer)
In dieser Sinnkrise einen Ausweg zu finden, ist sehr schwer, das Schicksal wird als gnadenlos und unbarmherzig empfunden. Dabei könnte man es aber auch als Aufruf sehen, nach den wahren Werten des Lebens zu suchen, den Sinn nicht mehr in äußeren Dingen zu sehen, den Weg nach innen zu gehen. Man kann z. B. dem spirituellen Leben, etwa mit Hilfe von Meditation, mehr Aufmerksamkeit schenken. Wichtig ist es auch, nach neuen Aktivitäten auszuschauen und alte Fähigkeiten, die vielleicht brach gelegen haben, neu zu entwickeln. Begabungen und Fähigkeiten, die nicht unmittelbar augenabhängig sind, gilt es, neu und kreativ anzugehen. Außerdem haben Betroffene dann mehr Zeit, um Kontakte mit anderen Menschen zu pflegen, sich auszutauschen und so am gesellschaftlichen Leben trotz Handicaps teilzunehmen.
Dieser Artikel erschien exklusiv in der Ausgabe 2/2019 der Mitgliederzeitschrift von Natur und Medizin e.V.
Prof. Dr. Ilse Strempel
Ilse Strempel ist Fachärztin für Augenheilkunde. Bis zu ihrer Pensionierung 2012 leitete sie ihren eigenen Funktionsbereich Ophthalmopathologie und war stellvertretende Direktorin der Universitäts-Augenklinik Marburg.