Komplementärmedizin bei Süchten
Die Fastenzeit 2020 war angesichts der Corona-Krise eine besondere Zeit. Im Hinblick auf Genussmittel haben vielleicht manche Menschen ihre Vorsätze, bis Ostern darauf zu verzichten, trotz alarmierender Nachrichten umgesetzt, andere haben gemerkt, dass sie gerade jetzt ein Glas Rotwein, einen Schnaps, ein Stück Kuchen oder einen Riegel Schokolade brauchen, um die Nerven zu beruhigen. Und dritte werden vielleicht gemerkt haben, dass aus dem Genussmittel ein Suchtmittel geworden ist und es nicht mehr ohne selbiges geht.
Für alle die, die bei sich oder anderen beobachten, dass das "Nein sagen" schwerfällt: Suchtprobleme allgemein, Alkoholabhängigkeit im Speziellen können sehr gut mit komplementärmedizinischen Maßnahmen behandelt werden. Die individuell gewählten Mittel stabilisieren den Menschen, und können daher nicht nur bei einer bestehenden Suchtproblematik helfen, sondern auch dann, wenn sich diese anbahnt oder wenn Stress die Neigung zu suchthaftem Verhalten, ob es sich um Alkohol, Nikotin, Essen, Arbeiten oder Internet handelt, verstärken. Eben auch in Belastungszeiten.
"Ein Gläschen in Ehren kann niemand verwehren!" "Wohl bekomm’s!" "So jung kommen wir nimmer z'samm!" "Ein Prosit der Gemütlichkeit!" … das sind nur vier von zig Trinksprüchen. Alkohol gehört zu unserer westlichen Gesellschaft dazu wie das Amen in der Kirche. Aber wann wird aus dem Feiern eine Sucht? Und wann macht diese Sucht die Menschen kaputt? Es ist ein schmaler Grat zwischen dem freiwillig-fröhlichen Konsum von Sekt, Wein oder Hochprozentigem und der inneren Not, die erst auch mit der Hilfe von Alkohol gelindert wird, später nur noch mit Alkohol oder anderen Suchtmitteln zumindest zeitweise betäubt werden kann.
Wann dieser schmale Grat, diese feine Linie zwischen freiwilligem Genuss und notwendiger Droge überschritten wird, ist im Hinblick auf Alkohol oft schwer zu sagen. Die Betroffenen sind dabei in der Regel die letzten, die sich ihre Alkoholabhängigkeit eingestehen. Sie haben den festen Glauben, auch mit dem Trinken aussetzen zu können, wenn sie es nur wollen. Nicht selten ist das aber eine Täuschung: "Ich war so dumm und arrogant zu glauben, ich wäre ein harmloser Gelegenheitstrinker und hätte meinen Alkoholkonsum jederzeit im Griff. Das ist Selbstbetrug, den sich jeder Alkoholiker vorgaukelt", so wird Elizabeth Taylor zitiert.
Wann aber ist man nun süchtig? Nachfolgend finden Sie einen offiziellen Fragebogen, den AUDIT-C Screening-Test. Bei einem Gesamtpunktwert von "4 und mehr" bei Männern und "3 und mehr" bei Frauen ist der Test positiv im Sinne eines "erhöhten Risikos für alkoholbezogene Störungen (riskanter, schädlicher oder abhängiger Alkoholkonsum)" und sollte dazu veranlassen, aktiv zu werden und etwas gegen dieses Problem zu unternehmen.
Alkoholabhängigkeit
Möglichkeiten und Grenzen komplementärmedizinischer Therapien sowie Empfehlungen zur begleitenden Selbsthilfe
Möglichkeiten und Grenzen komplementärmedizinischer Therapien sowie Empfehlungen zur begleitenden Selbsthilfe
Annette Kerckhoff · Otto Ziehaus
ISBN: 978-3-86864-015-1
Erscheinungsjahr: 2011
6,90 EUR
Zum Shop »Wie entsteht Sucht?
Ein Auszug aus dem Buch: "Die Alkoholabhängigkeit ist eine Erkrankung, deren Entwicklung – wie jede Suchterkrankung – von den unterschiedlichsten Faktoren mitbestimmt wird. Jeder einzelne dieser Faktoren hat für sich genommen nicht die Kraft, die Alkoholabhängigkeit zum Ausbruch zu bringen. Kommen jedoch mehr und mehr dieser Faktoren zusammen, so begünstigt dies die Neigung, eine Sucht zu entwickeln. Zunächst muss sie sich nicht zeigen. Kommt es dann jedoch zu Belastungssituationen, ist der "Griff zur Flasche" leichter, und auch der Weg in die Abhängigkeit erfolgt leichter als bei Menschen ohne eine derartige Neigung. Verdeutlichen kann man dies mit dem Bild einer Schwelle: der Schwelle zur Alkoholabhängigkeit. An sich ist die Schwelle für einen gesunden Menschen mit gutem Selbstbewusstsein so hoch, dass keine Gefahr droht, in die Abhängigkeit, die Sucht zu geraten. Verschiedene Einflüsse und Ereignisse können im Laufe des Lebens dafür sorgen, dass nach und nach die Schwelle immer niedriger wird oder anders ausgedrückt, die Vulnerabilität (Verwundbarkeit) zunimmt."
"Sozialisation, Kindheit und Erziehung haben einen entscheidenden Einfluss darauf, ob ein Mensch die Neigung entwickelt, an einer Suchtkrankheit zu leiden. Dies passiert, wenn ein Kind fortgesetzt – d. h. anhaltend über Jahre hinweg – missachtet, enttäuscht und zurückgesetzt wird, wenn es gehäuft Zurückweisungen ausgesetzt ist. Sätze wie "Du schaffst das sowieso nicht!" oder ähnliche Frustrationen führen in aller Regel zu Misserfolgen, diese dann wieder zu einem negativen Selbstbild. Auch, wenn das Kind keine Aufmerksamkeit, keine Zuwendung und keinen Körperkontakt erfährt, kommt es zu der Unsicherheit, die dieses Kind sein ganzes Leben begleiten wird.
Kinder benötigen es, dass ihre Entwicklung mit Anteilnahme begleitet wird. Sie benötigen den Kontakt, den Austausch, die Kommunikation, die Beziehung, das Gefühl, willkommen zu sein. Ist dies nicht der Fall oder werden ihre Entwicklungsschritte ignoriert oder missachtet, kommt dies einer Bestrafung gleich, zurück bleibt der fehlende Glaube an sich selbst, der Rückzug, der Zweifel.
Negative Erfahrungen, andauernde Vernachlässigungen und Verletzungen immer wieder im Kleinen, hinterlassen Spuren, sogar auf der biologischen Ebene der Neurotransmitter im Gehirn, deren Ausschüttung beeinflusst und verändert wird. Und sie haben nicht selten zur Folge, dass es auch im späteren Leben zu fortgesetzten Misserfolgen kommt. Das erlernte Muster des Umgangs mit Schwierigkeiten wird negativ geprägt: "Ich schaffe das doch nicht!" "Ich habe immer Pech." usw. Die Folge von einer negativen Einstellung, die den Misserfolg erwartet, ist jedoch, dass man sich nicht richtig anstrengt – und dann tatsächlich Misserfolg hat.
Auch der Umgang mit Problemen wird bei Menschen mit Suchtneigung früh geprägt. Häufig haben sie sich von Kindheit an daran gewöhnt, oder sie haben es erlernt, Stress und unguten Gefühlen wie Angst, Ärger, Verzweiflung mit einer bestimmten Substanz oder Tätigkeit zu begegnen, beispielsweise etwas zu essen, in den Mund zu stecken, später dann, sich zu betäuben. Die Vorbildfunktion der Eltern und des Umfeldes von Kindern und Jugendlichen hinsichtlich des Konsumstils ist eine wichtige Einflussgröße. Das kann die Zigarette sein, der Alkohol, der Joint, harte Drogen oder schlicht übermäßiges Essen, Arbeiten und Sexualität.
Das Gefühl, jetzt sofort und unter allen Umständen "sein" Suchtmittel zu brauchen – jeder Raucher kennt es: "Ich brauche jetzt eine Zigarette!" – wird bei Menschen mit schweren Abhängigkeiten sehr früh ausgelöst. Die Schwelle liegt niedriger als bei Nicht-Abhängigen. Psychiater sprechen vom arousal (englisch für Erweckung, Erregung). Damit beschreiben sie den Moment, in dem das unerträgliche Bedürfnis außer Kontrolle gerät und ihm nachgegeben werden muss, wider besseres Wissen, wider die Einsicht, dass damit alles kaputt gehen kann."
Dieser Artikel "Komplementärmedizin bei Süchten" erschien in der Ausgabe 3/2020 der Mitgliederzeitschrift von Natur und Medizin e.V.
Dr. rer. nat. Annette Kerckhoff
Dr. Annette Kerckhoff, BSc Komplementärmedizin und European Master of Health Promotion, Lehrbeauftragte für naturheilkundliche Selbsthilfestrategien, Phytotherapie und Medizingeschichte, ist seit fast zwei Jahrzehnten auf die laienverständliche Vermittlung von Gesundheitswissen und Selbsthilfemaßnahmen spezialisiert.