Es regnete waschkörbeweise Zustimmung aus der Bevölkerung
Veröffentlicht am
Integrative Medizin
Der ehemalige Geschäftsführer der Carstens-Stiftung, Dr. Henning Albrecht, erzählt über Karl Carstens, über das Nachwuchsförderprogramm der Stiftung und seine Wünsche an eine Medizin der Zukunft.
Es muss im Sommer 1986 gewesen sein. Es war mein erster Besuch in Meckenheim, dem Wohnsitz des Ehepaars Carstens. Es war ein sehr heißer Tag und mein alter Ford hatte natürlich keine Klimaanlage. Schweißgebadet kam ich am Hause Carstens an – selbstverständlich in Anzug und Krawatte. Der Altbundespräsident empfing mich in Polohemd, Jeans und barfuß in Holzlatschen. Er lachte mich an mit den Worten: „Herr Albrecht, Sie wollen doch sicher erst einmal duschen.“
So war er – und ich war völlig überrascht, kannte ich ihn doch wie die meisten Menschen nur aus dem Fernsehen als würdiges, distanziert wirkendes Staatsoberhaupt. Diese freundliche, diese menschliche und sehr zugewandte Art durfte ich noch häufig erleben.
Aufbruchsstimmung in den 80er Jahren
Mithilfe seiner Popularität und der seiner Gattin Veronica konnten wir Anfang der 80er Jahre eine regelrechte Aufbruchsstimmung erzeugen. Unter größtem Medienecho wurde bekannt, dass mit der Karl und Veronica Carstens-Stiftung sich endlich jemand einsetzt für Naturheilkunde und Homöopathie. Darauf schien das ganze Land gewartet zu haben. Trotz heftigen Widerstands an den Universitäten und auch in der Politik regnete es waschkörbeweise Zustimmung aus der Bevölkerung. Natur und Medizin wurde auch gegründet, um diesem Ansturm gerecht zu werden.
Bald kristallisierte sich heraus: Will ich naturheilkundliche Verfahren in der Medizin etablieren, muss ich den ärztlichen Nachwuchs fördern. Aus meiner Sicht bis heute das wichtigste Förderprogramm der Carstens-Stiftung. Ich glaube es war 1986, als sich am Klinikum in Essen ein Arbeitskreis für Naturheilkunde gründete. Es war die Zeit, als man das Wort Naturheilkunde dort wie auch an anderen Universitäten besser nicht in den Mund genommen hat. Ende der 80er Jahre nahm unsere Idee so richtig Fahrt auf. Ich lernte den Göttinger Medizinstudenten Daniel Kaiser kennen. Gemeinsam entwickelten wir erste Ideen zu den später berühmt gewordenen Wilseder Foren, einer tragenden Säule unseres Nachwuchsförderprogramms.
Homöopathie als Thema der Karnevalsvorlesung
Wir starteten eine systematische Umfrage an den ASten der medizinischen Fakultäten, frugen beispielsweise: Wo gibt es bereits Arbeitskreise für Homöopathie? Seinerzeit hielt man an den Universitäten sogenannte Karnevalsvorlesungen ab. Das ist kein Scherz! Aufs Korn genommen wurden darin vor allem bislang wenig erforschte therapeutische Interventionen und zumeist, man kann es sich denken, wurde die Homöopathie durch den Kakao gezogen. Gleichzeitig aber herrschte unter den Studierenden eine immense Unzufriedenheit über die schulmedizinische Ausbildung. Und viele sagten sich wohl: Wer so wie die Homöopathie im Kreuzfeuer steht – an dem muss was dran sein!
Kurz und gut: Auch bei den Studierenden war die Resonanz gewaltig. Dieses Interesse mussten wir zusammenführen, „netzwerken“ würde man das wohl heute nennen. Der am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE) tätige Professor Rolf Neth, ein Freund von Robert Charles Gallo, der Anfang der 80iger Jahre die ersten menschlichen Retroviren entdeckt hatte, eröffnete uns den Weg zum denkbar bestgeeigneten Tagungsort: Wilsede, einem Museumsdorf inmitten des Naturschutzgebietes Lüneburger Heide.
Unserer Einladung folgten ganze Scharen von Studierenden, auch aus den Niederlanden, der Schweiz und Österreich. Wir konnten gar nicht alle aufnehmen. Und wieder mussten wir feststellen, dass das gewaltige Echo eine Arbeit nach sich zog, die mit den vorhandenen MitarbeiterInnen nicht mehr zu bewältigen war. Und wer hat diese ersten wahrhaftig legendären und unvergesslichen Wilseder Foren mit Bravour auf die Beine gestellt? Dr. Dorothee Schimpf, die spätere Geschäftsführerin von Natur und Medizin e.V.
Im Frühjahr 1992, wenige Wochen vor dem Tode des großen Karl Carstens, strömte man nach Wilsede, Studierende aus der ganzen Republik, aber auch bereits renommierte Ärzte, wie beispielsweise Frau Professorin Ingrid Gerhard aus Heidelberg. Unter ihrer Leitung konnten wir zeigen, dass man den unerfüllten Kinderwusch homöopathisch erfolgreich behandeln kann. Und später sind freilich weitere wegweisende Förderprojekte hinzugekommen. Man denke an Dr. Achim Schütte, der aufzeigen konnte, dass Homöopathika Antibiotika im Schweinstall ersetzen können.
Und hier ist es mir wichtig zu sagen: Bescheidenheit und etwas Demut stehen jedem gut zu Gesichte, aber manchmal muss man den Menschen auch deutlich machen, was man alles auf den Weg gebracht hat. Über Umweltmedizin, Stichwort Fertilität, und Antibiotikaresistenzen, Stichwort Viehzucht, spricht heute jeder, aber wer kann die notwendigen und unabhängigen Studien vorlegen und ermöglichen?
Und eine Medizin der Zukunft?
Die konventionelle Medizin hat sich in den letzten Jahrzehnten stark verändert. Auch sie arbeitet immer häufiger individualisiert. Der Einsatz von Chemie zeitigt lebensrettende- und verlängernde Wirkungen, das ist nicht zu leugnen. Aber flankiert wird dieser Weg auch immer von Nebenwirkungen, viele, sehr unerwünschte Nebenwirkungen.
Deshalb sollten wir alle tunlichst darauf achten, möglichst lange auf diese Mittel zu verzichten. Wir sollten die Möglichkeiten von Naturheilkunde und Homöopathie sowie die Methoden der konventionellen Medizin in Anspruch nehmen. Diese Kombination ist die Medizin der Zukunft, die Vereinigung des Besten aus beiden Welten – die Integrative Medizin.
Mit Unterstützung der Bevölkerung
Für die Carstens-Stiftung wird es in den nächsten Jahren und Jahrzehnten darauf ankommen, den eingeschlagenen Weg weiterzugehen, vor allem im Bereich der Nachwuchsförderung beziehungsweise bei der Etablierung der Integrativen Medizin.
Etwas konkreter werdend wünsche ich mir eine Förderprogrammatik, die hilft, auch unter gesundheitsökonomischen Aspekten, die Verfahren der Integrativen Medizin in den Klinik- und Praxisalltag zu implementieren. Dazu brauchen wir einerseits die Unterstützung der Bevölkerung, andererseits bedarf es kluger Konzepte und vor allem: Mut, Mut und Mut! Einen Mut, wie ihn Karl Carstens mit der Errichtung der Carstens-Stiftung vor über vier Jahrzehnten an den Tag legte.