Wir haben ein sehr gutes Gesundheitswesen – und das sollte am besten auch so bleiben
6 Fragen zur Corona-Pandemie an Prof. Andreas Michalsen, Vorstandsvorsitzender der Carstens-Stiftung, Chefarzt der Abteilung Naturheilkunde im Immanuel Krankenhaus Berlin und Inhaber der Stiftungsprofessur für klinische Naturheilkunde am Institut für Sozialmedizin, Epidemiologie und Gesundheitsökonomie der Charité-Universitätsmedizin Berlin.
Wie hat sich Ihr persönlicher Alltag durch die Corona-Pandemie verändert?
Prof. Dr. Andreas Michalsen: Das hat in zwei Phasen stattgefunden. Die erste Phase war zunächst durch viel Aufregung und Sorge geprägt. Wir haben uns im Immanuel Krankenhaus Berlin komplett umstrukturiert. Die Naturheilkunde-Station, die Rheumatologie, die konservative Orthopädie – alle Abteilungen, die keine Notfallmedizin übernehmen, wurden auf COVID-19 Kapazitäten weitgehend umgestellt. Es wurde begonnen, die Intensivstation zu erweitern und eine Isolierstation aufzubauen, die Mitarbeiter in Infektionsschutz und Beatmungsmaßnahmen geschult. Ich war schon sehr unruhig, was da auf uns zukommen würde.
Als die befürchtete große Welle ausblieb, entstand eine mehr als ungewöhnliche Situation. In dieser zweiten Phase erfuhr ich persönlich eine gewisse und durchaus auch angenehme Entschleunigung meines Alltags, viele Krankenhausbetten blieben leer, die Forschung wurde komplett unterbrochen und Dienstreisen fielen weg.
Jetzt hat die Klinik für Naturheilkunde aber wieder geöffnet und die Patienten kommen. Wir müssen selbstverständlich die Abstandsregeln einhalten, was im Krankenhausbetrieb nicht ganz einfach ist. Wie kann man eine Yoga- oder Fasten-Gruppe mit 2m Abstand in einem kleinen Raum unterbringen? Das geht nur mit Einschränkungen. Auch das Masken-Tragen ist durchaus anstrengend, aber die Patienten würdigen es, dass das Krankenhaus die Sicherheitsmaßnahmen umsetzt.
Wie bewerten Sie die aktuellen Zahlen zu Infizierten und Todesfällen in Deutschland?
Das, was wir bisher in Deutschland erlebt haben, war glücklicherweise keine große Welle. Die Infektionszahlen sind, vor allem im Vergleich zu anderen Ländern, sehr positiv. Wir können darüber sicher sehr froh sein. Jetzt geht es darum, die geamte medizische Vesorgung wieder ins Laufen zu bringen. Corona war ein Schock, ein absoluter Fokus, der alles andere verdrängt hat und das auch zurecht. Aber wir dürfen jetzt nicht die gesamte andere medizinische Versorgung vernachlässigen.
Wie schätzen Sie die Gefahr möglicher Begleiterscheinungen wie Depressionen oder Ängste durch den "Shutdown" ein?
Dass es eine Zunahme von Angst gegeben hat, davon geht man aus. Das Ausmaß – das heißt, ob diese Angst nur vorübergehend ist und wie stark sie ausgeprägt ist, mit welchen Konsequenzen – das weiß man alles noch nicht. Psychiater mit denen ich spreche, berichten, dass die Zahl mancher psychischer Erkrankungen zunimmt, etwa bei den angesprochenen Angstsyndromen. Bei anderen, etwa der Depression, gibt es aber auch gegenläufige Beobachtungen. Manche Patienten, die bereits unter einer Depression leiden und soziale Kontakte eher meiden, fühlen sich zurzeit sogar etwas erleichtert.
Ein weiterer Punkt ist, dass aktuell viele Menschen nicht zum Arzt gehen, um eine mögliche Ansteckung zu vermeiden. Wie viele Erkrankungen werden dadurch unentdeckt bleiben oder nicht frühzeitig behandelt? Ich denke hier etwa an Schlaganfälle oder Herzinfarkte. Die Folgen hieraus lassen sich heute noch nicht einschätzen. Bisher sind nur Mutmaßungen möglich, erst am Ende des Jahres haben wir belastbare Daten.
Die Krise hat aber auch ein ablenkendes Moment. So haben wir in der Klinik für Naturheilkunde die Erfahrung gemacht, dass Patienten Termine absagen, weil sich ihre Beschwerden aus ihrer Sicht relativiert haben.
Wenn Sie eine Prognose zum Verlauf der Pandemie abgeben müssten – wie sähe diese aus?
Die weltweite Situation ist von einer enormen Komplexität geprägt, die Erklärungen schwierig macht. Ein Bericht, der erst kürzlich in der New York Times erschienen ist, hat die Ausmaße der Pandemie in den Ländern verglichen und es bleibt rätselhaft, wieso zum Beispiel der Iran und Indonesien massiv betroffen sind, ihre jeweiligen Nachbarländer Irak und Malaysia aber nur wenig. Warum in Europa etwa Italien schwer zu kämpfen hat und Deutschland vergleichsweise gute Infektionszahlen aufweist. Natürlich werden nun Gründe gesucht – etwa die Strukturen der jeweiligen Gesundheitssysteme, die Zahl der vorhandenen Altenheime und die Zustände darin, heißeres oder trockeneres Klima, die Zahl der Sonnenstunden am Tag, oder dass Südeuropäer sich mehr umarmen würden als Mitteleuropäer – aber für mich bleibt die Situation aktuell noch unklar.
Erst im Nachhinein wird man das herausbekommen. Es gibt inzwischen zwei erste Studien aus New York und England, in denen man alle im Krankenhaus behandelte COVID-19 Erkrankte systematisch analysierte und bei der sich Adipositas, also das starke Übergewicht, als der wesentliche Risikofaktor neben dem Lebensalter herausstellte. Solche Studien werden jetzt mehr und mehr kommen und damit werden wir mehr über die Pandemie verstehen und auch erkennen, was neben Hygiene und einer zu erwartenden Impfung sonst präventiv getan werden kann. Beim Risikofaktor Adipositas liegt es auf der Hand.
Heute vorauszusagen, was noch passieren wird, ist jedoch schwer. Das Virus hat uns schon oft überrascht. Ich glaube, dass es in Deutschland keine zweite Welle geben wird – das ist aber nur mein Bauchgefühl und nicht logisch abgeleitet.
Welche Schlüsse lassen sich aus der Corona-Pandemie über unser Gesundheitssystem ziehen – was sollte evtl. in Zukunft verändert werden?
Im Vergleich mit vielen anderen Ländern haben wir in Deutschland mehr Krankenhausbetten. Allerdings war die Regierung gerade dabei, das zu ändern. 30% der Krankenhäuser sollten geschlossen werden. Jetzt hat man hoffentlich wahrgenommen, dass es keine gute Idee ist, das Gesundheitswesen wie ein profitorientiertes Unternehmen zu optimieren. Denn wenn man das tut, hat man keine Reserve für außerordentliche Situationen, wie wir jetzt eine erleben. Bei der Polizei oder Feuerwehr erwartet auch niemand, dass diese Profit machen sollen, wieso die Gesundheitsversorgung? Ich kann nur hoffen, dass diese Einsicht bei Jens Spahn und der Regierung angekommen ist, dass nicht jedes Bett immer zu 100% und profitabel belegt sein muss und dass etwa die Existenz eines Kreiskrankenhauses trotzdem einen Sinn ergeben kann.
Wir haben ein sehr gutes Gesundheitswesen – und das sollte am besten auch so bleiben.
Welche Rolle kann und sollte die Komplementärmedizin dabei einnehmen?
Ich finde es schade, dass man nur zurückhaltend und zögernd die Maßnahmen der Naturheilkunde zur Stärkung des Immunsystems diskutiert. Das Augenmaß ist beinahe ausschließlich auf die klassischen seuchenhygienischen Maßnahmen gerichtet, was zum einen ja auch richtig ist: Das Beste ist es, das Virus gar nicht erst zu bekommen. Aber wir wissen aus der Infektiologie genauso gut: Wenn das Virus da ist, dann ist der Verlauf der Infektion abhängig von der Stärke des Immunsystems. Dieser Aspekt ist bislang eindeutig zu wenig betrachtet worden.
Bei Corona-Viren ist durchaus davon auszugehen, dass es schwierig sein wird, einen sicher und komplett wirksamen Impfstoff zu entwickeln. Aber auch bis es einen Impfstoff gibt, ist man dem Virus nicht ohnmächtig ausgeliefert. Die grundsätzliche infektiologische Datenlage ist klar: Die Immunabwehr ist besser, wenn man sich viel pflanzlich mit reichlich Obst und Gemüse ernährt, wenn man ausreichend Bewegung und keinen Schlafmangel hat. Übrigens auch wenn man weniger Stress und Angst erfährt. Daher sollte man Corona nicht auf die leichte Schulter nehmen, aber gleichzeitig auch nicht in Panik verfallen, die das Immunsystem schwächt. Stattdessen sollte die Immunstärkung mehr ins Bewusstsein rücken.
Das Gespräch wurde am 04.05.2020 geführt.
Prof. Dr. med. Andreas Michalsen
ist Vorstandsvorsitzender der Karl und Veronica Carstens-Stiftung und seit 2009 Chefarzt der Abteilung Naturheilkunde im Immanuel Krankenhaus Berlin und Inhaber der Stiftungsprofessur für klinische Naturheilkunde am Institut für Sozialmedizin, Epidemiologie und Gesundheitsökonomie der Charité-Universitätsmedizin Berlin.
Als Facharzt für Innere Medizin promovierte er im Bereich Kardiologie und bildete sich außerdem in den Bereichen Notfall-/Rettungsmedizin und Naturheilverfahren fort. Zu seinen Fachgebieten gehören u.a. Homöopathie, Physikalische Medizin und Balneologie, Ernährungsmedizin, Akupunktur und Mind-Body Medizin.