Komplementäre und
Integrative Medizin
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Blutegeltherapie bei Kniegelenksarthrose
Gesundheitstipps kompakt

Blutegeltherapie bei Kniegelenksarthrose

Von Prof. Andreas Michalsen

Arthrose Blutegeltherapie

Die Behandlung der Gonarthrose mit Hirudo medicinalis (medizinischer Blutegel): Wie wirkt sich die Therapie auf das Schmerzempfinden und die mechanische Berührungsschwelle aus?

Hintergrund Blutegeltherapie bei Gonarthrose

Die Gonarthrose ist eine der häufigsten chronischen Erkrankungen der westlichen Welt. Die Prävalenz beträgt bei den über 55‐Jährigen 10%; ein Viertel davon ist schwer betroffen (Peat et al. 2001). Die empfohlene Therapie der Gonarthrose besteht aus einer Kombination von nichtpharmakologischen und pharmakologischen Therapieoptionen (Jordan et al. 2003). Am häufigsten findet hierbei die Gruppe der NSAR (nichtsteroidale Antirheumatika) Verwendung. Vor allem bei der Langzeittherapie kann es jedoch zu Nebenwirkungen kommen (Seed et al. 2009). Daher erscheint es sinnvoll, nach neuen Behandlungsmöglichkeiten zu suchen.

Zu diesen zählt die Behandlung mit Hirudo medicinalis (medizinischer Blutegel), dessen Wirksamkeit in mehreren Studien anhand von validierten Schmerz‐ und Funktionsfragebögen belegt werden konnte (Michalsen et al. 2001; Michalsen et al. 2003; Andereya et al. 2008).

Unklar sind dagegen die speziellen Wirkmechanismen, über die die Wirksamkeit der Blutegelbehandlung vermittelt wird. In dieser Studie wurde daher speziell untersucht, wie sich die Behandlung der Kniearthrose mit Blutegeln auf das Schmerz‐, Vibrations‐, und Berührungsempfinden an dem betroffenen Gelenk auswirkt.

Methoden / Studiendesign

Die Studie wurde als Anwendungsbeobachtung durchgeführt, in der ausschließlich der Routineablauf im Studienzentrum dokumentiert wurde. Da es sich um ein Pilotprojekt handelte, in dem erste Daten zum Thema generiert werden sollten, fand keine Einteilung in Therapie‐ und Kontrollgruppe und damit keine Randomisierung statt. Ziel der Studie war es zunächst einmal, Phänomene zu beschreiben, die durch die Blutegeltherapie auftreten und mit den weiter unten beschriebenen Instrumenten gemessen wurden.

Das Studienzentrum war das Rheumazentrum Mittelhessen in Bad Endbach. Diese Klinik weist eine langjährige Erfahrung in der Behandlung von rheumatologischen und orthopädischen Erkrankungen auf. 

Studienteilnehmer

An der Studie nahmen 42 Patienten mit einer klinisch und radiologisch gesicherten Gonarthrose teil. Eingeschlossen wurden Patienten beiderlei Geschlechts

▶ im Alter zwischen 40 und 85 Jahren
▶ mit einem Body Mass Index < 35 kg/m2
▶ mit zweiseitiger Gonarthrose gemäß der Kriterien der American Society of Rheumatology (Altman et al. 1986)
▶ mit einem röntgenologischen Arthrosestadium II–III nach Kellgren und Lawrence
▶ mit einer Indikation zur Blutegeltherapie nach Maßgabe des behandelnden Arztes
▶ mit Knieschmerzen an den meisten Tagen der drei zurückliegenden Monate

Ausgeschlossen wurden u. a. Patienten mit sekundären Arthroseformen, schwerer Komorbidität, systemischen Kortikoidmedikationen, bestehender Antikoagulation oder Hämophilie.

Hauptzielkriterien

Als Hauptzielkriterien wurden die Veränderungen der Druckschmerzschwelle (Pressure Pain Threshold, PPT), der mechanischen Berührungsschwelle (Mechanical Detection Threshold, MDT) und der Vibrationsempfindungsschwelle (Vibration Detection Threshold, VDT) definiert. Diese Methoden sind Subtests, die der QST‐Testbatterie (Quantitative Sensory Testing) des deutschen Forschungsnetzwerk neuropathischer Schmerz (DFNS) entnommen wurden (Rolke et al. 2006a, 2006b).

Druckschmerzschwelle PPT

Die Druckschmerzschwelle wurde mit einem Algometer (Firma Somedic AB, Hörby, Schweden) gemessen. Der Metallstempel des Algometers besitzt eine Auflagefläche von 1 cm² und wurde mit konstant ansteigendem Druck im rechten Winkel auf die Haut aufgesetzt. Zunächst registrierten die Probanden die Berührung und im kommenden Verlauf einen zunehmenden Druck. Sobald dieser Druck als schmerzhaft empfunden wurde, betätigten die Probanden einen am Messgerät angebrachten Knopf, woraufhin die Messung abgebrochen wurde. Diese Testung erfolgte an fünf verschiedenen Stellen an beiden Knien sowie an den Handinnenflächen.

Mechanische Berührungsschwelle MDT

Die MDT wurde mit sogenannten von Frey Härchen (Firma Somedic AB, Hörby, Schweden) gemessen, geeichten Fieberglashärchen unterschiedlichen Durchmessers, die an einem Plastikgriff befestigt sind. Sie wurden speziell dafür entwickelt, einen definierten Druck auf das Hautareal auszuüben, um so zu ermitteln, bei welcher Intensität eine Berührung auf der Hautoberfläche wahrgenommen wurde. Diese Messung wurde an zwei verschiedenen Stellen an beiden Knien sowie an den Händen durchgeführt.

Schwelle der Vibrationsempfindung VDT

Die VDT wurde mit einer herkömmlichen Rydel‐Seiffer Stimmgabel ermittelt, wie sie in der Neurologie verwendet wird. An den beiden Backen der Stimmgabel sind skalierte Gewichte befestigt, die durch die Vibration der Stimmgabel in Schwingung versetzt werden. Der Normalwert beträgt 8. Bei vermindertem Vibrationsempfinden liegt er darunter. Diese Stimmgabel wurde vibrierend auf die Knochenvorsprünge der Handgelenke (processus styloideus ulnae) und auf die Kniescheiben aufgesetzt. Im Normalfall nahmen die Probanden die Vibration für eine gewisse Zeitspanne wahr. Sobald sie keine Vibrationen mehr verspürten, waren sie dazu angehalten, dies dem Untersucher zu sagen.

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Nebenzielkriterien

Der WOMAC (Western Ontario and McMaster Universities Arthritis Index) ist ein vom Patienten selbst auszufüllender, spezifischer Fragebogen mit 24 Fragen, der den Gesundheitszustand des Patienten in den drei Richtungen Schmerz, Gelenksteifigkeit und Bewegungseinschränkungen (Funktion) ermittelt und für den deutschen Sprachraum adaptiert wurde (Stucki et al. 1996; Bellamy et al. 1988).

Jede Frage soll vom Patienten mit Hilfe einer numerischen Analogskala von 0 – 10 (kein – extrem) beantwortet werden. Um die Schmerzen an beiden Knien getrennt beurteilen zu können, wurden den Patienten zwei 10cm lange visuelle Analogskalen (VAS) vorgelegt. Die Patienten wurden angewiesen, an der Stelle auf der Linie ein Kreuz zu setzen, die für sie den Schmerz am jeweiligen Knie repräsentierte (0cm – kein Schmerz, 10cm – stärkster vorstellbarer Schmerz).
Häufigkeit und Menge der Schmerzmedikation sowie eine eventuell notwendige Bedarfsmedikation wurden den Patientenakten des Studienzentrums entnommen.

Zusätzlich sollte ermittelt werden, ob – bedingt durch die Gonarthrose – eine verzerrte Wahrnehmung des Knieschemas der Patienten vorlag und diesbezüglich eine Veränderung nach der Blutegeltherapie festgestellt werden konnte. Hierzu wurde jeder Patient gebeten, eine von acht verschiedenen Standardzeichungen der rechten bzw. linken Extremität auszuwählen, die am ehesten ihre subjektive Größenwahrnehmung des Knies wiedergibt. Im Anschluss daran wurde der Umfang der Knie mit einem Maßband gemessen.

Studienablauf

Nach Prüfung der Ein‐ und Ausschlusskriterien und der Aufklärung durch die Ärzte des Studienzentrums wurde den potentiellen Studienteilnehmern eine Probandeninformation sowie eine Einwilligungserklärung in schriftlicher Form ausgehändigt (Tag ‐3).

Am Tag 0 mussten die Studienteilnehmer zunächst die Fragebögen (WOMAC, VAS, Knieschema) beantworten. Im Anschluss daran wurden die Messungen mit den oben beschriebenen Instrumenten durchgeführt. Zuletzt wurde den Patienten die Knieschemazeichnung vorgelegt und erläutert sowie der Umfang der Knie gemessen. Danach erfolgte die Blutegelbehandlung an dem stärker betroffenen Knie. Am Tag 7 nach der Behandlung erschienen die Probanden zur zweiten Messung und Befragung. Es wurden ihnen erneut die oben erwähnten Fragebögen ausgehändigt und anschließend die entsprechenden Messungen durchgeführt.

Blutegelbehandlung

Die Blutegelbehandlung wurde in den dafür vorgesehenen Räumlichkeiten des Rheumazentrums Mittelhessen durchgeführt. Sie erfolgte in Form einer einmaligen lokalen Applikation von 3–5 Blutegeln (Hirudo medicinalis) an dem Knie der jeweils stärker schmerzenden Seite. Es wurden ausschließlich Zuchtegel der Zaug GmbH (Biebertal, Deutschland) verwendet.

Die Blutegel wurden im Bereich des betroffenen schmerzhaften Gelenkes angesetzt. Die Behandlung erfolgte im Sitzen oder Liegen. Die entsprechenden Stellen waren in Absprache mit den Patienten zuvor von einem Arzt markiert worden.

Die Blutegel wurden von geschultem Personal manuell (mit Hilfe einer Pinzette) aus dem Blutegelbehälter entnommen und angesetzt, dabei wurden stets Handschuhe getragen. Es wurde immer das spontane Abfallen des Egels abgewartet, dies dauerte im Schnitt zwischen 20 und 60 Minuten. Die abgefallenen Egel wurden vom Personal in einem dafür vorgesehenen Behältnis entsorgt. Zunächst wurden die Bisswunden mit sterilen Tupfern abgedeckt. Im Anschluss
daran wurde ein Verband angelegt. Am nächsten Morgen stellten sich die Patienten zur Kontrolle der Wunde und zu einem eventuellen Verbandswechsel vor.

Statistik

Alle Auswertungen basierten auf dem Intention‐to‐treat Prinzip, d. h. einmal in die Studie aufgenommene Patienten wurden in die Auswertung mit einbezogen, unabhängig davon, ob sie protokollgerecht behandelt wurden oder nicht und ob sie zu allen Erhebungszeitpunkten Daten lieferten oder nicht.

Sensitivitätsanalysen beinhalteten auch Auswertungen auf der Basis der per‐protocol‐Population, d. h. aller Patienten, die eine einzelne Blutegeltherapie erhielten und nach 6–8 Tagen die Hauptuntersuchung vollständig absolviert hatten.
Veränderungen der Haupt‐ und Nebenzielkriterien wurden über multiple Regressionsmodelle analysiert, in der die Erwartungshaltung und das Geschlecht als klassierte Faktoren und das Alter sowie der jeweilige Baselinewert
als lineare Kovariablen in das Modell eingingen.

Ergebnisse 

Basisdaten

Es wurden insgesamt 42 Patienten im Alter von 70,4 ± 9,8 Jahren in die Studie aufgenommen. Der älteste Teilnehmer war 84 Jahre alt, der jüngste 49 Jahre. Zwei Drittel der Patienten waren weiblich. Ein Drittel der Patienten wurde ambulant, die anderen stationär behandelt. Zwei Drittel der Probanden erhielten während der Beobachtungszeit zusätzliche Behandlungen. Hier überwogen die Krankengymnastik (59,5%) und die Behandlung mit Lehm (28,6%). Weiterhin nahmen zwei Drittel der Probanden im Studienverlauf Schmerzmedikamente ein. Bei fünf Patienten (11,9%) traten Nebenwirkungen auf. Es kam zu übermäßigem Juckreiz, starker Rötung und Schwellung der behandelten Stellen, spätestens eine Woche nach der Behandlung stellte sich jedoch eine erhebliche Besserung der Beschwerden ein.

QST Subtests

Wie erwartet, veränderte sich die Berührungsschwelle im Kontrollareal, den Händen, nicht. Oberhalb der Kniescheibe und über dem Schmerzmaximum kam es hingegen zu einer Abnahme der Berührungsschwelle, die am stärker schmerzenden Knie deutlich stärker war als am weniger schmerzenden. Über dem Schmerzmaximum erreichte diese Abnahme das Signifikanzniveau.

Hinsichtlich der Schmerzschwelle war eine Verminderung an fast allen Testarealen festzustellen, wobei allerdings das Signifikanzniveau bis auf eine Ausnahme (an der Hand der weniger betroffenen Seite) in keinem Fall erreicht wurde. Die Vibrationsempfindungsschwelle stieg an beiden Handgelenken und an der Kniescheibe der weniger betroffenen Seite signifikant an. Im Gegensatz dazu gab es am Knie der stärker betroffenen Seite keine Veränderung.

Schmerz und Funktion

Nach der Blutegeltherapie kam es bei zwei der drei WOMAC Indizes (Schmerz und Alltagsaktivität) sowie dem Globalindex zu einer signifikanten Verbesserung, bei der Steifigkeit zu einer nicht‐signifikanten Verbesserung. Am stärker schmerzenden Knie zeigte sich eine signifikante Reduktion des mittels VAS gemessenen Schmerzes von 5,4 auf 3,0. Am weniger schmerzenden Knie konnte dagegen keine Veränderung festgestellt werden. Die Einnahme der Medikamente ASS (Acetysalicylasäure) und Ibuprofen zeigte im Vergleich der Werte vor und nach der Therapie keine Veränderung. Hingegen wurden die Medikamente Diclofenac und Novalgin verstärkt eingenommen.

Knieumfang und Knieschemazeichnung

Das behandelte Knie wurde im Seitenvergleich vor und nach der Therapie als dicker empfunden als das unbehandelte Knie, so lag der subjektive Umfang des stärker schmerzenden Knies vor der Therapie bei 1,4 (± 1,6) Punkten, der des weniger schmerzenden Knies bei 1,0 (± 1,5) Punkten. Nach der Blutegelbehandlung reduzierte sich der empfundene Umfang leicht auf 1,0 (± 1,6) beziehungsweise 0,5 (± 1,8) Punkte. Beide Knie wurden somit nach der Therapie als geringfügig dünner empfunden. Der tatsächliche Umfang des Knies veränderte sich nicht.

Diskussion

Dies ist die erste Studie, die detaillierte neurologische Daten zu möglichen Wirkmechanismen einer Blutegelbehandlung der Gonarthrose erhoben hat. Obwohl es sich nur um Pilotdaten handelt, lassen die Ergebnisse den Schluss zu, dass eine einmalige Blutegelbehandlung bei Gonarthrosepatienten die Berührungsschwellen verändern kann. Das Fehlen einer Kontrollgruppe schränkt die Aussagekraft der gefundenen Ergebnisse ein, ebenso die Tatsache, dass ein Großteil der Studienteilnehmer begleitende Behandlungen erhalten hat sowie der kurze Beobachtungszeitraum von nur sieben Tagen.

Eine sichere klinische Beurteilung der gefundenen Effekte ist außerdem deshalb schwierig, weil weiterhin keine Referenzdaten für die gemessenen Werte am Knie existieren, um die Validität der Daten zu überprüfen.
Die geringe Zahl an fehlenden Werten und die gute Reliabilität der Messverfahren an sich lassen jedoch darauf schließen, dass die gewählten Methoden dazu geeignet sind, Veränderungen im Zusammenhang mit der Blutegeltherapie valide zu erfassen und somit zu einem Erklärungsansatz der Wirkung der Blutegeltherapie beitragen.

Literaturverzeichnis

Autoren:
Maurice Müller (1,2), Romy Lauche (3), Dr. Heinz Schleenbecker (1), Rainer Lüdtke (4),
PD Dr. Frauke Musial (3), Prof. Dr. Gustav Dobos (3), Prof. Dr. Markus Lengsfeld (2)
1 Rheumazentrum Mittelhessen, Sebastian‐Kneipp‐Str. 36, 35080 Bad Endbach
2 Universität Marburg, Fachbereich Orthopädie und Rheumatologie, Baldingerstraße, 35043 Marburg
3 Abteilung für Innere Medizin V, Naturheilkunde und Integrative Medizin, Kliniken Essen‐Mitte, Knappschaftskrankenhaus, Am Deimelsberg 34 A, 45276 Essen
4 Karl und Veronica Carstens‐Stiftung, Am Deimelsberg 36, 45276 Essen

Hintergrund Hirudin
Die ausgeprägte Fähigkeit des Blutegels, die Blutgerinnung zu beeinflussen, ist seit langem bekannt. Verantwortlich hierfür ist das in den Speicheldrüsen des Egels gebildete Hirudin. In diesem Zusammenhang wurden Blutegel traditionell bei thrombotischen Gefäßverschlüssen und Schlaganfall in vielen Medizinsystemen der Welt eingesetzt. Seitdem das Hirudin pharmakologisch synthetisiert werden kann, ist die überragende gerinnungshemmende Wirkung des Hirudins in einer Vielzahl von Studien belegt worden. Hirudin und verwandte Weiterentwicklungen sind inzwischen fest in der Angiologie und Kardiologie zur Antikoagulation etabliert.

Literatur zu Blutegeltherapie bei Kniegelenksarthrose

Michalsen A, Moebus S, Spahn G, Esch T, Langhorst J, Dobos GJ.: Leech therapy for symptomatic treatment of knee osteoarthritis: results and implications of a pilot study. Abstract

Bäcker M, Lüdtke R, Afra D, Cesur O, Langhorst J, Fink M, Bachmann J, Dobos GJ, Michalsen A.: Effectiveness of leech therapy in chronic lateral epicondylitis: a randomized controlled trial. Abstract

Prof. Dr. med. Andreas Michalsen

Prof. Dr. med. Andreas Michalsen

Vorstandsvorsitzender der Carstens-Stiftung

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