Komplementäre und
Integrative Medizin
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Debatte um die Misteltherapie

Debatte um die Misteltherapie

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Onkologie Integrative Medizin

Die Misteltherapie ist in deutschsprachigen Ländern eines der am häufigsten verschriebenen und genutzten onkologischen Verfahren (1). Zwischen 30% (bei Lungenkrebs) und 77% (bei Brustkrebs) der PatientInnen nutzen die Mistel im Kontext eines integrativen Ansatzes (2-8). Laut Leitlinie der Gesellschaft für Integrative Onkologie (SIO) verbessert die Misteltherapie die Lebensqualität während und nach einer Brustkrebsbehandlung; laut der deutschen S3-Leitlinien zur Diagnostik, Therapie und Nachsorge des Mammakarzinoms, Lungenkarzinoms und Melanoms stärkt eine professionelle Beratung über komplementäre Verfahren das Verhältnis zwischen PatientIn und TherapeutIn. Zur Anwendung komplementärer Verfahren fehlen hierzulande allerdings noch evidenzbasierte Richtlinien. Eine neue S3-Leitlinie zu integrativen Therapien in der Onkologie ist gerade in Entwicklung, mit ihrer Fertigstellung wird zum Ende des Jahres gerechnet. Diese wird sich selbstverständlich auf wissenschaftliche Publikationen, insbesondere systematische Reviews, stützen – auch was den Einsatz der Mistel angeht.

Die Mistel in der Krebstherapie ist in der Vergangenheit bereits Gegenstand der Forschung gewesen und ist es noch immer. Einen aktuellen Beitrag leistete vergangenes Jahr das zweiteilige systematische Review von Freuding et al., verblüffte jedoch mit seinen Ergebnissen. Entgegen der positiven Einschätzung der SIO kamen die Autoren zu dem Schluss, dass es hinsichtlich der Lebensqualität oder der Linderung von Nebenwirkungen einer Krebstherapie keinen Anhaltspunkt aus der Forschung gebe, die Mistel zu verschreiben (9).

Außerdem zeige die Studienlage keinen Effekt der Misteltherapie auf das Überleben der PatientInnen (10). Diese Arbeit ist daraufhin stark kritisiert worden (11), allerdings gingen die Autoren nur teilweise auf die geäußerte Kritik ein (12). Dies veranlasste Matthes et al. nun dazu, ihre Kritik an der Methodik und den Schlussfolgerungen in einem ausführlichen Statement zu veröffentlichen (13). Anhand des Cochrane Handbook for Systematic Reviews of Intervention und unter Nutzung des AMSTAR 2 tools formulieren sie Kritik in insgesamt sechs Bereichen.

Unvollständigkeit

Matthes et al. werfen die Frage auf, wieso Freuding et al. nur randomisiert-kontrollierte Studien (RCTs) betrachten und Studien unter Praxisbedingungen bzw. an der Lebenswirklichkeit der PatientInnen orientierte Studien außer Acht lassen, obwohl gerade eine Kombination dieser beiden Studienarten ein umfassendes Bild liefern könnte. Ebenso kritisieren sie den Ausschluss von Studien, die nicht in deutscher oder englischer Sprache oder vor 1994 veröffentlicht wurden.

Intransparenz

Darüber hinaus wird kritisiert, dass Freuding et al. nicht klar offenlegten, nach welchen Kriterien bzw. Strategien die Literaturrecherche erfolgte. So werde beispielsweise ein bestimmtes Mistelpräparat zwar im Review aufgegriffen, sei aber nicht als Suchbegriff in den Such-Algorithmus der Recherche aufgenommen worden. Ebenso wird eine Mindermeldung oder unsystematische Erfassung von Nebenwirkungen vermutet. So werde etwa das Auftreten von lokalen Hautreizungen nicht hinreichend thematisiert, obwohl ein Großteil der PatientInnen eine solche bei subkutaner Anwendung erlebten. Es handle sich gewissermaßen um einen gewünschten Nebeneffekt, der auf eine Immunantwort hinweise.

Forschungsfrage

Das Mittel der Wahl zur Prüfung, ob ein bestimmter Effekt durch eine Therapie vorliegt und wie groß dieser Effekt ist, ist eine Meta-Analyse. Auf die Frage, weshalb Freuding et al. mit ihrem Review keine Meta-Analyse vorlegen, entgegneten diese, die Daten aus den betrachteten Studien seien zu heterogen. Allerdings, so kritisieren Matthes et al., erläutern sie nicht, was sie unter "heterogen" verstehen. Sollte damit gemeint sein, dass die einbezogenen Studien hinsichtlich der Therapie und der ProbandInnen zu unterschiedlich sind, um sie zu vergleichen – es wurden Studien mit unterschiedlichen Misteltherapien bei ProbandInnen mit unterschiedlichen Krebserkrankungen eingeschlossen – stellt sich die Frage der Relevanz: Welche Aussagekraft kann der Arbeit von Freuding et al. dann überhaupt zugeschrieben werden? Vielleicht wäre eine engere Forschungsfrage, z.B. die Beschränkung auf bestimmte Tumorarten oder bestimmte Mistelanwendungen, angemessener gewesen.

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Einschätzung des Verzerrungs-Risikos

Die Aussagekraft von Studien hängt auch vom sogenannten Risk of Bias ab. Wie wahrscheinlich ist es, dass das Ergebnis Verzerrungen unterworfen ist? Matthes et al. kritisieren, dass Freuding et al. zehn Studien ein hohes Verzerrungsrisiko zuschreiben (bei sechs Studien aufgrund der Einschluss- bzw. Zuteilungsart der ProbandInnen und bei vier Studien aufgrund vermeintlich fehlender Outcome-Daten), obwohl diese laut Cochrane Handbook eigentlich ein geringes Risiko aufweisen. Die Aussagekraft besagter Studien sei also fälschlicherweise abgewertet worden.

Voreingenommenheit

Umgekehrt stellt sich laut Matthes et al. die Frage nach der Objektivität von Freuding et al. So seien Studien mit positivem Urteil über die Misteltherapie tendenziell eher ein hohes Verzerrungsrisiko zugesprochen worden und Studien mit negativen Ergebnissen zur Misteltherapie tendenziell ein geringes Verzerrungsrisiko – obwohl bei letzteren teilweise tatsächlich die Zuteilungsart der ProbandInnen unklar oder fehlende Outcome-Daten nicht korrekt berücksichtigt seien.

Ungenauigkeit

Insgesamt seien zwar 14 Studien zum Überleben bei Freuding et al. aufgeführt, aber nur 12 in der entsprechenden Übersichtstabelle gelistet. Außerdem wird eine Diskrepanz zwischen der Zahl der reviewten Studien und den Outcomes bemängelt. So habe eine von diesen 12 Studien sowohl ein positives Ergebnis (Mistel bei nicht-metastasiertem Gebärmutterkrebs) als auch ein negatives (Mistel bei einem Großteil der gynäkologischen Krebsarten), sodass insgesamt 13 Outcomes gezählt wurden. Daher sei eine Fehleinschätzung der Proportionen von positiven zu negativen Studienergebnissen in Relation zur Studienanzahl naheliegend. Schließlich wird noch kritisiert, dass Freuding et al. den Fehler begehen, "kein Beweis eines Effektes" mit "Beweis eines nicht vorliegenden Effektes" zu verwechseln. Ihre Schlussfolgerung, die Misteltherapie leiste keinen Beitrag zum Überleben, sei auf dieser Grundlage nicht folgerichtig.

Foto Professor Andreas Michalsen | © Anja Lehmann
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Fazit

Dass integrative Verfahren wissenschaftlich geprüft werden ist begrüßenswert, schließlich bilden die gewonnenen Daten eine Entscheidungsgrundlage für oder wider deren Aufnahme in Behandlungsempfehlungen. Diese Prüfung sollte allerdings selbstverständlich den Qualitätskriterien der Wissenschaft genügen. Folgt man der Kritik von Matthes et al., erfüllt die Arbeit von Freuding et al. diese Kriterien nicht. Die Häufung und zum Teil auch die Schwere der vorgeworfenen Fehler überrascht. Es wird spannend sein, ob und wie Freuding et al. darauf reagieren. Sicher ist jedoch eines: "[Die] Misteltherapie verdient [eine] wissenschaftlich hochwertige Debatte" (14).

Literatur

1) M. A. Horneber, G. Bueschel, R. Huber et al. Mistletoetherapy in oncology. Cochrane Database of Systematic Re-views, vol. 2, Article ID CD003297, 2008. Abstract

2) K. Münstedt, A. Entezami, U. Kullmer. Onkologische Misteltherapie – zur Anwendung und Bewertung der Wirksamkeit durch Ärzte. Deutsche Medizinische Wochenschrift, vol. 125, no. 41, pp. 1222–1226, 2000. Abstract

3) J. Weis, H. H. Bartsch, F. Hennies et al. Complementary medicine in cancer patients: demand, patient' attitudes and psychological beliefs. Oncology Research and Treatment, vol. 21, no. 2, pp. 144–149, 1998. Abstract

4) A. J. Templeton, B. Thürlimann, M. Baumann et al. Cross-sectional study of self-reported physical activity, eating habits and use of complementary medicine in breast cancer survivors. BMC Cancer, vol. 13, p. 153, 2013. Abstract

5) A. Thronicke, S. L. Oei, A. Merkle et al. Integrative cancer care in a certified cancer centre of a German anthroposophic hospital. Complementary Therapies in Medicine, vol. 40, pp. 151–157, 2018. Abstract

6) L. Drozdoff, E. Klein, M. Kiechle, P. Daniela. Use of biologically-based complementary medicine in breast and gynecological cancer patients during systemic therapy. BMC Complementary and Alternative Medicine, vol. 18, no. 1, p. 259, 2018. Abstract

7) O. Micke, J. Büntzel, K. Kisters, U. Schäfer, P. Micke, R. Mucke. Complementary and alternative medicine in lung cancer patients: a neglected phenomenon? Frontiers of Radiation Terapy and Oncology, vol. 42, pp. 198–205, 2009. Abstract

8) F. Schad, A. Thronicke, A. Merkle et al. Implementation of an integrative oncological concept in the daily care of a German certified breast cancer center. Complementary Medicine Research, vol. 25, no. 2, pp. 85–91, 2018. Abstract

9) M. Freuding, C. Keinki, S. Kutschan, O. Micke, J. Buentzel, J. Huebner. Mistletoe in oncological treatment: a systematic review. Part 2: quality of life and toxicity of cancer treatment. Journal of Cancer Research and Clinical Oncology, vol. 145, no. 4, pp. 927-939, 2019. Abstract

10) M. Freuding, C. Keinki, O. Micke, J. Buentzel, J. Huebner. Mistletoe in oncological treatment: a systematic review. Part 1: survival and safety. Journal of Cancer Research and Clinical Oncology, vol. 145, no. 3, pp. 695-707, 2019. Abstract

11) H. Matthes, R.-D. Hofheinz, G. Bar-Sela, D. Galun, D. Martin, R. Huber, J. Langhorts, P. F. Matthiessen, F. Schad. Letter to the editors of the Journal of Cancer Research and Clinical Oncology. Journal of Cancer Research and Clinical Oncology vol. 145, pp. 2405-2407, 2019. Abstract

12) J. Huebner, M. Freuding, C. Keinki, O. Micke, J. Buentzel. Answer to the letter to the editors by Matthes and colleagues regarding our systematic reviews on mistletoe. Journal of Cancer Research and Clinical Oncology, vol. 145, pp. 2409-2410, 2019. Abstract

13) H. Matthes, A. Thronicke, R-D. Hofheinz, E. Baars, D. Martin, R. Huber, T. Breitkreuz, G. Bar-Sela, D. Galun, F. Schad. Statement to an Insufficient Systematic Review on Viscum album L. Therapy. Hindawi. Evidence-Based Complementary and Alternative Medicine, vol. 2020, Article ID 7091039, doi 10.1155/2020/7091039 [Titel anhand dieser DOI in Citavi-Projekt übernehmen] . Link

14) N. Hövener, L. Reimers. Misteltherapie verdient wissenschaftlich hochwertige Debatte. Presseinformation des DAMiD vom 10.08.2020. Link

Michèl Gehrke, M.A.
Michèl Gehrke, M.A.

Pressesprecher

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