Komplementäre und
Integrative Medizin
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Dr. Veronica Carstens
Wir

Nachruf auf Dr. Veronica Carstens

Von Dr. Annette Kerckhoff

Veronica Carstens hatte sich den Brückenschlag von Schulmedizin und Naturheilkunde zur Lebensaufgabe gemacht. Sie war die Pionierin einer integrativen Medizin.

Ihrem Einsatz ist es zu verdanken, dass Naturheilkunde und Komplementärmedizin Eingang in zahlreiche Bereiche der Medizin gefunden haben: Ein Nachruf auf Dr. Veronica Carstens.

Jugend und Heirat mit Karl Carstens

Veronica Carstens, geborene Prior, wurde am 18. Juni 1923 in Bielefeld geboren, wo sie als jüngstes von vier Kindern auch aufwuchs. Ihre Leidenschaft galt der Musik - sie spielte Geige – und der Medizin. 1942 begann sie ein Medizinstudium in Freiburg und arbeitete nach dem Physikum1944/1945 als Lazarettschwester für das Deutsche Rote Kreuz. 1944 heiratete sie den Juristen Karl Carstens, den sie ein Jahr zuvor auf der Hochzeit ihrer Schwester kennen gelernt hatte. Karl Carstens arbeitete nach dem Krieg zunächst als Rechtsanwalt, hatte seit 1960 verschiedene politische Ämter inne und war von 1979-1984 Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland. Bekannt wurde das Ehepaar Carstens durch seine Wanderungen in ganz Deutschland.

Medizinstudium in Freiburg - Praxis in Meckenheim

1956 nahm Veronica Carstens ihr Medizinstudium wieder auf. Sie promovierte 1960 und absolvierte anschließend eine Facharztausbildung zur Internistin. In Meckenheim bei Bonn eröffnete sie eine internistische Praxis, die sie auch während der Amtszeit ihres Mannes als Bundespräsident fortführte. Von 1979-1984 war sie Schirmherrin des Müttergenesungswerkes, von 1979-1989 die erste Schirmherrin der Deutschen Multiple Sklerose Gesellschaft.

Veronica Carstens beklagte bereits in den Anfangsjahren ihrer ärztlichen Tätigkeit den tiefen Graben zwischen Schulmedizin und Naturheilkunde. Nach ihrer Auffassung war der Hauptgrund dafür eine mangelnde wissenschaftliche Durchdringung der Naturheilkunde. Um diesen Zustand zu ändern, errichtete sie 1982 gemeinsam mit ihrem Mann die Karl und Veronica Carstens-Stiftung.

Die Carstens-Stiftung

Das Ziel der Stiftung war und ist bis heute, Naturheilkunde, Komplementärmedizin und Homöopathie wissenschaftlich zu erforschen, den Nachwuchs zu fördern und auf diesem Wege eine Integration der Naturheilkunde in Forschung und Lehre der Hochschulen aber auch in die ärztliche Praxis zu ermöglichen. Die Stiftung war zunächst als rein private Initiative zur Regelung des Nachlasses gedacht, da die Ehe kinderlos blieb.

Nicht zuletzt durch ihre öffentlichen Auftritte fand das Anliegen von Veronica Carstens ein für sie selbst unerwartet großes Echo in der Bevölkerung. Im Jahr 1983 wurde daher die Patientenorganisation und Förderverein der Stiftung „Natur und Medizin e.V.“ gegründet, dem schnell mehrere tausend Menschen als Förderer beitraten. Dank der Zuwendungen der Unterstützer wurde die Carstens-Stiftung zum größten Geldgeber der Forschungsförderung im Bereich Komplementärmedizin in Europa. Bis heute hat sie über 30 Millionen Euro für die Forschungsförderung bereitgestellt, damit mehr Mittel als das Bundesforschungsministerium oder die Europäische Union.

Projekte

Zu den maßgeblichen Projekten gehören mehrere Hochschulambulanzen für Naturheilkunde, z. B. an der Universitätsfrauenklinik in Heidelberg, der Universitätsklinik Freiburg oder dem Klinikum Jena. Jüngstes Förderprojekt ist eine Stiftungsprofessur an der Charité Berlin zur Erforschung der Komplementärmedizin.

Die Stiftung verfügt heute über Europas bedeutendste Fachbibliothek und Datenbank im Bereich Komplementärmedizin. Unabhängig von Wirtschaft und Politik bietet sie Patienten und Journalisten Informationen.

Über Jahrzehnte setzte sich Veronica Carstens unermüdlich mit Vortragsreisen und öffentlichen Auftritten, zahlreichen Briefen und persönlichen Gesprächen für ein sinnvolles Miteinander von Schulmedizin und Naturheilkunde ein, auch wenn dies –insbesondere in den ersten Jahren – schärfste Angriffe mit sich brachte. Sie nutzte ihre Kontakte, um auf die Berechtigung der Naturheilkunde aufmerksam zu machen und politische Entscheidungen mit zu beeinflussen.

Politisches Engagement für die Naturheilkunde

In Gesprächen mit Politikern, Petitionen und Korrespondenzen mit Entscheidungsträgern trat sie für die Anerkennung der Naturheilkunde ein. Auch die Mitglieder von „Natur und Medizin“ rief die überzeugte Demokratin stets dazu auf, die jedem Bürger gegebenen Möglichkeiten der politischen Arbeit zu nutzen. In besonderem Maße setzte sie sich nach der Wiedervereinigung für eine Verbreitung der Naturheilkunde in den neuen Bundesländern ein.

Neben der beruflichen und akademischen Förderung durch die Carstens-Stiftung legte Veronica Carstens großen Wert auf den persönlichen Kontakt und den gemeinsamen, offenen Austausch. Der Kreis der von der Stiftung geförderten Projektleiter und Doktoranden wie auch die Mitglieder von „Natur und Medizin“ wurden für Veronica Carstens zur zweiten Familie. Sie verfolgte mit Interesse die Lebenswege der Einzelnen über Jahrzehnte und suchte immer wieder das persönliche Gespräch.

Neuen und unkonventionellen Strömungen in der Medizin stand sie vorurteilsfrei und aufgeschlossen gegenüber. Neben der Praxistätigkeit beantwortete sie bis 2008 alle Anfragen von Mitgliedern des Fördervereins persönlich, widmete sich dieser umfangreichen Korrespondenz von jährlich mehreren hundert Briefen mit großer Hingabe.

Ein offenes Ohr für die Menschen

In ihrer Praxis und bei Vortragsveranstaltungen nahm sie sich Zeit für jeden, der ihren Rat suchte. Insbesondere ihre Fähigkeit, zuzuhören, ihre ehrliche Anteilnahme am persönlichen Schicksal, ihre besondere Gabe, Hoffnung zu stiften und Mut zu machen und ihr tiefer Glaube halfen unzähligen Menschen über persönliche Krisen hinweg. Stets forderte sie die dazu auf, sich nicht dem Schicksal zu ergeben, sondern selbst aktiv zu werden.

Bis zum Ende ihres Lebens war Veronica Carstens passionierte Ärztin. Auch nach Aufgabe ihrer Praxis 2008 fühlte und dachte sie als Ärztin und war immer um das Wohlergehen ihrer Mitmenschen besorgt.

Bescheidenheit und Glaube

Veronica Carstens blieb trotz des hohen politischen Amtes, das ihr Mann bekleidete, stets bescheiden. Sie war der festen Überzeugung, dass jeder Mensch eine Aufgabe in sich trägt und wählte für ihre Autobiografie ganz bewusst den Titel „Dein Ziel wird dich finden“. Gerne zitierte sie Victor Frankl, der sagte: „Der Mensch ist nicht auf Glück, sondern auf Sinn angelegt.“ Die überzeugte Christin war durch ein tiefes Gottvertrauen geprägt, das ihr bis zum Schluss Kraft und Zuversicht gab.

Wir trauern um eine große Frau, die sich bis zu ihrem Lebensende der selbst gestellten Aufgabe verpflichtet fühlte, getragen von der Vision einer Heilkunde, die das Wohl des Patienten und die Würde des Menschen über alles andere stellt.

 

Dr. rer. nat. Annette Kerckhoff

Dr. rer. nat. Annette Kerckhoff

Dr. Annette Kerckhoff, BSc Komplementärmedizin und European Master of Health Promotion, Lehrbeauftragte für naturheilkundliche Selbsthilfestrategien, Phytotherapie und Medizingeschichte, ist seit fast zwei Jahrzehnten auf die laienverständliche Vermittlung von Gesundheitswissen und Selbsthilfemaßnahmen spezialisiert. 

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